Das Grab im Moor
kommen würde – obwohl sie wusste, dass sie weder Zeit noch Geld dafür hatten.
Eines Tages, kurz vor Weihnachten, rief August Ekehorn Ingrid in sein Büro.
›Nun, Ingrid‹, sagte Ekehorn. ›Du bist mir in letzter Zeit aufgefallen und ich möchte, dass du die Lilly spielst.‹
Ingrid wurde es ganz schwummerig vor Freude und sie musste sich am Schreibtisch festhalten, um nicht umzukippen.
›Danke!‹, flüsterte sie. ›Tausend Dank! Sie ahnen nicht, wie viel mir das bedeutet!‹
Aber August Ekehorn verstand sehr wohl. Auch er war in einer armen Familie aufgewachsen und hatte sich dann Hals über Kopf ins Theater verliebt. Die Erinnerung daran hatte Ingrid in ihm wachgerufen und auch aus diesem Grund wollte er gerade ihr die Rolle geben.
›Du kannst dir das Kostüm bei meiner Frau abholen. Na los, beeil dich.‹
Während Ingrid ging, um ihre Kleider anzuprobieren, versammelte Ekehorn das Ensemble für die Probe. Langsam wurde die Zeit knapp und er fühlte sich unter Druck.
›Heute werden wir zum ersten Mal das ganze Stück durchspielen‹, sagte er. ›Und ich möchte . . . Findet ihr es nicht auch schrecklich warm hier drinnen?‹
Schweißperlen rannen ihm über die Stirn, erschöpft ließ er sich auf einen Stuhl in der ersten Reihe sinken.
›Ich glaube . . . ich glaube, ich brauche einen Arzt.‹
Aber es stellte sich heraus, dass der einzige Arzt der Stadt verreist war, und so rief man die Hebamme.
Besorgt untersuchte sie August Ekehorn, der sich leichenblass auf dem Sitz zurücklehnte.
›Ist es etwas Ernstes?‹, fragte einer der Schauspieler.
Die Hebamme hob Ekehorns Augenlid an und musterte seine Iris. Dann hörte sie sein Herz ab.
›Zweifelsohne‹, sagte sie.
Erschrocken sah Ekehorn die Hebamme an.
›Was ist es denn? Ist es das Herz?‹
Die Hebamme schnaubte nur.
›Natürlich ist es das Herz. Wenn Sie sich ausruhen, wird es in ein paar Wochen überstanden sein!‹
Streng sah sie sich um.
›Dass ihr jedoch darauf besteht, dieses verfluchte Stück aufzuführen, bereitet mir viel größere Sorgen.‹
Die Theaterleute sahen sie verständnislos an. Wovon redete sie?
›Wisst ihr denn nicht, dass ein Fluch auf dem Stück liegt?‹, fragte die Hebamme. ›Wisst ihr nicht, was damals geschah, als das Stück zum ersten Mal aufgeführt wurde? Und auch nicht, was beim zweiten Mal passiert ist?‹
Die Bühnenarbeiter und Schauspieler schüttelten die Köpfe.
Da erzählte die Hebamme, was sich zugetragen hatte, als das Stück vor vielen, vielen Jahren geschrieben worden war. Sie erzählte von dem Mädchen, das die Hauptrolle gespielt hatte und während der Proben wahnsinnig geworden war – sie hatte mit Menschen gesprochen, die außer ihr niemand sehen konnte. Manchmal hatte sie laut aufgelacht und Sekunden später geweint oder geschrien. Ihr Benehmen war immer merkwürdiger geworden – und eines Tages hatte sie sich erhängt. Auf der Bühne.
Man hatte das Stück sofort eingestellt und beschlossen, es niemals mehr aufzuführen.
Aber nach einigen Jahren war diese Geschichte in Vergessenheit geraten und wieder kam jemand auf die Idee, das Stück aufs Neue aufzuführen. Auch damals dauerte es nicht lange und die Unglücksfälle häuften sich. Man erzählte sich, das Mädchen, das die Lilly zum allerersten Mal gespielt hatte, spuke im Theater.
Trotz all der schlechten Omen gelang es der Truppe dieses Mal, die Proben abzuschließen, ohne dass jemand ernsthaft zu Schaden kam. Aber dann – mitten in der Premierenvorstellung – blieb ein Bühnenarbeiter im Vorhangseil hängen. Das Publikum schrie vor Entsetzen, als der Mann plötzlich über der Bühne baumelte – mit gebrochenem Genick.
Ernst musterte die Hebamme das Ensemble.
›Seitdem sagt man, dass es unmöglich ist, Ein Haus am Meer zu spielen, ohne dass jemand dafür mit dem Leben bezahlt. Ihr dürft dieses Stück nicht aufführen! Begreift ihr das nicht?‹
Die Theaterleute schauten sich an. Das klang vollkommen verrückt, aber zugleich waren den meisten von ihnen seit Beginn der Proben verschiedene kleine Unfälle zugestoßen und einige glaubten sogar, ein Gespenst gesehen zu haben – womöglich das Mädchen aus dem ersten Stück. Was, wenn die Hebamme recht hatte? Vielleicht sollten sie die Vorstellung wirklich absagen. Besonders jetzt, im Hinblick auf Ekehorns Herz . . .
Da hörten sie hinten zwischen den Kulissen jemanden lachen und alle drehten sich verwundert um.
Es war Ingrid, die in Lillys Kostüm
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