Das Grab - Roman
rutschten sie gemeinsam herunter und wanderten zum Ufer.
Vicki starrte zu der Badeplattform hinaus, die ein Stück weiter draußen auf Ölfässern schwamm.
Sie ließen an jenem Morgen ihre Schuhe und Socken am Strand zurück und schwammen zu der Plattform hinaus. Sie saßen in ihren nassen Klamotten auf den verwitterten Planken und zitterten vor Kälte. Dann legten sie sich hin und nahmen einander in die Arme, und die Kälte verschwand. Es war, als wären sie und Paul die einzigen Menschen auf der Welt. Sie küssten sich so lange und so leidenschaftlich, dass ihre Gesichter um den Mund herum rot waren, als die Sonne schließlich aufging.
Die Erinnerung daran füllte Vickis Brust mit einem hohlen Schmerz.
So viele Menschen behaupten später, sie würden nichts in ihrem Leben bedauern. Sie sagen, sie würden alles wieder genauso machen, wenn sie die Gelegenheit hätten, noch einmal von vorn anzufangen. Doch Vicki fühlte ein großes Bedauern. Es machte sie traurig, wenn sie an diesen Morgen mit Paul auf dem schwimmenden Floß dachte. Wenn sie alles noch einmal erleben könnte, würde sie dort auf der sanft schaukelnden Plattform mit ihm schlafen, noch bevor die Sonne aufging. Sie hatte damals ihre nasse Bluse für ihn aufgeknöpft, und er hatte ihren BH aufgefummelt und ihn nach oben um ihren Hals geschoben und ihre Brüste gestreichelt. Das war weit mehr, als sie je zuvor getan hatten. Es kam ihr verwegen und wundervoll vor. Paul hatte noch nie zuvor die Brüste eines Mädchens gesehen oder berührt, und er war auch für Vicki der Erste, der ihre sah und berührte. Seine Hände schweiften nie unter den Bund ihrer Jeans, und sie berührte ihn nie dort unten, obwohl sie ihn spüren konnte, als sie sich umarmten und aneinanderpressten. Sie spielte mit dem Gedanken, doch die Vorstellung, ihre Hose auszuziehen und es zu machen , erschien ihr ungeheuer erwachsen und beängstigend. Deshalb ließ sie es bleiben. Als die Sonne aufging, lösten sie sich aus ihrer Umarmung und setzten sich auf. Als sie ihren BH wieder herunterzog und ihre Bluse zuknöpfte, empfand sie eine merkwürdige Leere. Etwas – sie war sich nicht ganz sicher, was – war verlorengegangen, vielleicht unwiederbringlich. Sie weinte, während sie zusah, wie die Sonne über dem Fluss emporstieg, und Paul legte seinen Arm um ihre Schultern. »Das war die schönste Nacht meines Lebens, Vicki. Ich liebe dich so sehr. Ich werde dich immer lieben, egal, was passiert.«
»Ich werde dich auch immer lieben«, sagte sie.
Während sie bis zu den Knöcheln im seichten Wasser des Flusses stand, wischte sich Vicki mit dem Handrücken über die Augen und schniefte. Wir hätten es tun sollen, dachte sie. Es wäre so wunderschön gewesen.
So ist es nun mal, dachte sie.
Sie wandte sich von der Plattform im Fluss ab. Mit gesenktem Kopf watete sie ans Ufer. Sie war nicht mehr in der Stimmung, um weiterzujoggen. Sie kratzte sich den Rücken und entschied sich, in ihre Wohnung zurückzukehren, zu duschen und den verdammten Juckreiz loszuwerden.
Es wird ein interessanter Tag, tröstete sie sich und versuchte, die düstere Stimmung abzuschütteln, die sie befallen hatte. Heute ist Charlies Golftag. Ich hab die Verantwortung.
Was soll’s?
Ihre Füße machten in ihren nassen Joggingschuhen schmatzende Geräusche.
Sie wischte sich erneut die Augen.
»Sind Sie okay?«, rief ein Mann.
Die Stimme erschreckte sie.
Sie blickte auf.
Auf der anderen Seite des Strands, wo die Klettergerüste des Spielplatzes aufragten, saß ein Mann ganz oben auf der Rutsche. Paul? Hatte eine wundersame Laune des Schicksals ihn so viele Jahre später bei Morgengrauen an den Strand zurückgelockt? Es schien unmöglich, doch sie lief mit wild klopfendem Herzen und angestrengt zusammengekniffenen Augen in seine Richtung.
Es kann unmöglich Paul sein, dachte sie. Wenn er wieder nach Ellsworth gezogen wäre, hätte Ace es mir gesagt.
Vielleicht weiß Ace es ja nicht.
Vielleicht ist er gerade erst angekommen.
Er schien im richtigen Alter zu sein. Seine Haare waren strohblond, genau wie Pauls. Er war allerdings größer. Paul war schlank und schmal gewesen, während dieser Mann breite Schultern, eine muskulöse Brust und kräftige Arme hatte. Vielleicht hat Paul zugelegt, dachte sie.
Dann war sie nah genug, die Züge seines Gesichts ausmachen zu können, und ihre Hoffnung zerstob.
Paul konnte vielleicht breiter und kräftiger geworden sein, doch sein Gesicht konnte sich unmöglich so sehr
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