Das Grab - Roman
Dexter über den Weg zu laufen.
Sie hielt sich nahe am Straßenrand und lauschte nach Motorgeräuschen, bereit, auf das Schotterbankett auszuweichen, falls sie hinter sich einen Wagen näher kommen hörte.
Hier draußen gab es nur ein paar Häuser, meist Ferienhäuschen am Ufer mit eigenen Bootsanlegern dahinter. Als die Straße sich vom Fluss entfernte, verschwanden auch die Häuser. Vicki fühlte sich, als sei sie allein auf einem Waldweg. Ein asphaltierter Weg zwar, doch von Bäumen gesäumt und still, abgesehen von den Geräuschen des Waldes, dem Zwitschern der Vögel, dem Summen der Insekten und dem Rascheln der Blätter in der sanften Brise. Die warmen, erdigen Gerüche schienen noch wundervoller als die aus der Bäckerei auf der Central Street.
Vicki fühlte sich großartig. Aber ihr war heiß, Dexter sei Dank. Sie hätte Shorts und T-Shirt anziehen sollen, nicht diesen warmen Jogginganzug. Sie war nicht auf die Idee gekommen, die Jacke und die lange Hose über ihre gewohnten Laufsachen zu ziehen. Außer Sichtweite von Dexter hätte sie sich hinter einem Busch verstecken und den Jogginganzug ausziehen können. Jetzt wünschte sie, sie hätte daran gedacht. Doch sie trug unter den viel zu warmen Sachen nur Höschen und BH.
Sie überlegte, die Straße zu verlassen. Im Wald gab es jede Menge Pfade, die sie alle von früher kannte, wie gute alte Freunde. Sie könnte ein Versteck für den Jogginganzug suchen.
Genau, und in Unterwäsche weiterlaufen.
Die Vorstellung war verlockend, aber sie verwarf sie wieder. Was, wenn sie jemandem begegnete? Das war nicht sehr wahrscheinlich, doch sie wollte nichts riskieren.
Sogar angezogen war es vielleicht keine so gute Idee, allein im Wald herumzulaufen.
Sie bog um eine Kurve. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Direkt vor ihr war die Brücke über den Laurel Creek. Sie sah die niedrige Steinmauer, gegen die Steve Kraft gekracht war. Vor ihrem inneren Auge tauchten Bilder von Darlene im Rollstuhl auf, Melvin, der die Kabelklemmen an ihren Daumen befestigte, Darlene, die auf den Rücken des Direktors kippte, und ihr Kopf, der mit dem Gesicht voran in den Stacheldraht fiel. Dann drängten sich Bilder aus ihrem Alptraum in ihr Bewusstsein: Hast du dich für mich aufgespart ? und Ich schenke dir das ewige Leben ; der Wurm in Darlenes Auge; die Zähne der Kabelklemmen, die in die Brustwarzen des Mädchens bissen und wie sie Rauch aus Mund und Nase blies und wie sie vom Stuhl aufstand und mit ihrer Cheerleader-Show anfing, die mit einem Sprung endete, bei dem ihr Kopf herunterfiel; der Kopf, der auf Vicki zurollte und rollte und rollte.
Gott, ich hätte nicht hierherlaufen sollen.
Sie drehte der Brücke den Rücken zu und rannte, was das Zeug hielt.
Nachdem Elsie Johnson gegangen war, hatte Vicki eine freie Stunde bis zum nächsten Patiententermin. Sie schlug den Anzeigenteil des Ellsworth Outlook auf und begann, nach einer Wohnung zu suchen. Sie fand drei Annoncen, die vielversprechend klangen, und tätigte zwei Anrufe, bevor Thelma anklopfte und den Kopf hereinsteckte. »Melvin Dobbs ist hier«, sagte sie. »Er hat keinen Termin, aber er möchte Sie sehen. Offenbar hat er sich die Hand verletzt.«
Melvin .
»Ist Charlie schon von seinem Hausbesuch zurück?«
»Leider nicht. Soll ich Mr. Dobbs sagen, dass Sie beschäftigt sind?«
»Nein, das können wir nicht machen. Ich sehe ihn mir an.«
Thelma schloss die Tür.
Vicki stand auf. Ihre Beine fühlten sich ein bisschen wackelig an. Vielleicht, weil sie heute Morgen länger als sonst gelaufen war, vielleicht, weil sie Angst hatte, Melvin gegenüberzutreten. Für die Gänsehaut auf ihren Armen war jedenfalls nicht das Jogging verantwortlich. Sie rieb sich die Arme und ging zur Tür des Sprechzimmers, nahm den weißen Mantel vom Haken, zog ihn über ihr Sommerkleid und knöpfte ihn zu.
Ich hätte heute im Bett bleiben sollen, dachte sie.
Als sie in den Korridor hinaustrat, sah sie, dass die Tür von Behandlungsraum B geschlossen war. Offenbar hatte Thelma Melvin dort hineingebeten. Vor der Tür zögerte sie.
Wenn ich ihn öfter sehe, dachte sie, gewöhne ich mich vielleicht an ihn und er macht mir weniger Angst.
Sie war nicht sicher, ob sie das glaubte. Schließlich hatte die kurze Begegnung an der Tankstelle bereits ausgereicht, um eine neuerliche Serie von Alpträumen auszulösen.
Sie öffnete die Tür und trat in den Raum. Melvin saß mit hängenden Schultern und baumelnden Beinen auf der mit einem Papiertuch
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