Das graue distinguierte Leichentuch: Roman
wußte aber nicht, wie er sich verabschieden sollte. Ruth Bernstein mußte seine Unruhe gespürt haben, denn sie kam ihm entgegen. »Haben Sie im Büro zu tun, Dave?«
»Ja. Sehr viel. Eigentlich möchte ich vor Feierabend dort sein. Ich muß noch mit jemandem sprechen.«
»Das verstehe ich. Es war sehr lieb von Ihnen, mich zu besuchen, Dave.«
Die Rückfahrt war von qualvoller Länge, obwohl der Zug den Fahrplan einhielt. Vom Bahnhof aus rief er im Büro an und sprach mit dem Leiter der künstlerischen Abteilung. Der Mann nannte ihm den Namen eines Fotoateliers, wo man in dringenden Fällen einen Film ganz schnell entwickeln lassen konnte. Raschen Schrittes begab sich Dave durch die Bahnhofshalle zu dem Ausgang, der auf die 42. Street führt.
In dem Fotoatelier wurde er sofort bedient – er brauchte nur den Namen der Agentur zu nennen. Man fragte ihn, ob er im Vorraum warten wolle, und er bejahte. Er griff nach einer Nummer des ›Photography Annual‹ und versuchte, sich auf die Abbildungen zu konzentrieren, aber es gelang ihm nicht. Er dachte allzu angestrengt darüber nach, was Ruth Bernstein ihm erzählt hatte, und über die erschreckende Idee, die in dem Augenblick, da sie die Porträtaufnahme erwähnte, wie ein Blitzlicht in seinem Hirn aufgeflammt war.
Als die Dunkelkammer läutete, waren Daves Gedanken unablässig nur in eine bestimmte Richtung gewandert. Wenn seine Überlegungen stimmten, würde auf dem Film in der Entwicklungsschale das Porträt von Bob Bernsteins Mörder zu sehen sein.
Die Tür ging auf.
»Pech«, sagte der junge Mann in der weißen Schürze. »Jemand muß die Kamera geöffnet haben, bevor der Film aufgebraucht war. Alle Bilder sind überbelichtet, Mr. Robbins.«
Er reichte Dave ein Bündel nasser Negative, die so leer und so wenig aufschlußreich waren wie die Joker in einem Kartenspiel.
9
Die Haut, die man so gerne anfaßt
›Manhattan Manorc, das prunkvolle Haus, das den East River Drive überragt, ist eine Landmarke für die Kapitäne der Schlepper und eine Sehenswürdigkeit für die Bewohner von Welfare Island. Nachts wirkt das Appartementhaus noch imposanter, und mit der besonderen Ehrfurcht, die der Städter seiner Stadt entgegenbringt, sah Dave durchs Taxifenster die von Scheinwerfern beleuchteten Terrassen näher kommen. Niemand konnte sich seiner Wirkung entziehen. Der Chauffeur legte den Finger an den Mützenschirm, als er Daves bescheidenes Trinkgeld entgegennahm, und der Portier öffnete die Tür des De Soto mit Cadillac-Grandezza. Das gläserne Portal öffnete sich so majestätisch, wie es königlicher Besucher würdig gewesen wäre, und der dicke Teppich in der Halle begrüßte Daves Füße demütig und weich. Feierlich geleitete ihn der Liftboy in den gepolsterten Aufzug und setzte ihn sanft in der Etage ab, auf der Gräfin Szylenska wohnte. Die Pracht war fast hypnotisierend, und wenn nicht jemand in einer Nachbarwohnung Kohl gekocht hätte, wäre Dave ganz ihrem Bann verfallen. So aber rümpfte er lächelnd die Nase und drückte dann auf den Knopf, der im Inneren des Appartements Nr. 18 A ein Glockenspiel ertönen ließ.
Eine schwarzhäutige junge Frau kam an die Tür. Sie hielt ein Köfferchen in der Hand. Als sie ihn erblickte, fing sie zu kichern an und tauschte dann mit ihm den Platz. Er sah verdutzt drein, als sie die Tür hinter ihm zumachte. Dann brachte ihm die
Stimme der Gräfin vom anderen Ende des Korridors her die Erklärung.
»Das war unser Mädchen Dessie. Sie war eben im Weggehen begriffen, als Sie klingelten. Kommen Sie näher, David.«
Er ging durchs Vorzimmer in den Wohnraum und sah rot. Es war keine Sinnestäuschung, kein Trick der Netzhaut. Die Teppiche waren rot, die Gardinen waren rot, überall war roter Plüsch zu sehen. Die Möbel selbst waren aus mattem Elfenbein und dürften wohl auch in dem Jahrhundert, in dem sie angefertigt worden waren, ein Vermögen gekostet haben. Alles andere aber war rot.
»Ach, wissen Sie, Frau Gräfin«, sagte Dave, »ich habe einen großartigen Namen für den Raum. Nennen Sie ihn doch das Rote Zimmer.«
Die Dame lachte unbestimmt und winkte ihn mit ihrer Zigarettenspitze (schwarz) näher zu sich heran. Gräfin Szylenska hatte sich an diesem Abend auf griechisch zurechtgemacht. Sie trug ein gelbgrünes antikes Kleid. Ihr Haar war zu gefährlicher Höhe aufgetürmt und fügte ihrer Körperlänge einige weitere Zentimeter hinzu, die sie gar nicht brauchte. Als er nahe genug herangekommen war, reichte
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