Das graue distinguierte Leichentuch: Roman
sie ihm einen Cocktail (rot).
»Ist Ihnen ein Manhattan recht?« fragte sie. »Ich habe festgestellt, daß auch Sonja Manhattans bevorzugt. Wenn ich ehrlich sein soll, schmeckt ihr meiner Meinung nach nur die Kirsche unten im Glas.« Lachend setzte sie sich. »Ich fürchte, Sonja hat sich noch nicht an unsere verruchte Welt gewöhnt, David. Manchmal glaube ich fast, sie wurde im falschen Jahrhundert geboren.«
»Wo ist sie denn?«
»Sie zieht sich an. Sie wird gleich fertig sein. Natürlich kann sie sich nicht entschließen, was sie anziehen soll. Und wie ist es denn Ihnen ergangen, David?«
»Danke, recht gut, Frau Gräfin, in Anbetracht der Umstände.«
»Sie sind immer noch böse auf mich, nicht wahr?«
»Böse? Warum sollte ich böse sein?«
»Wegen gestern, natürlich. Diese Fotos! Ich weiß, Sie werden mir nie wirklich verzeihen, was ich getan habe, David. Aber ich glaube nicht, daß Sie Ihren Entschluß bereuen werden.«
»Einen Augenblick!« Dave ließ sein Glas sinken. »Über eines wollen wir uns im klaren sein, Frau Gräfin: daß ich heute abend hier erschienen bin, hat gar nichts mit Ihrem gestrigen Zauberkunststück zu tun. Wenn Sie Kermit Ihr kleines Fotoalbum zeigen wollen, haben Sie meinen Segen. Ja, ich werde es ihm selber gern auf den Tisch legen, falls Sie es mir anvertrauen wollen.«
Die ohnedies recht großen Augen der Gräfin wurden noch größer.
»Ich bin gekommen, weil ich Lust dazu hatte«, fuhr er fort. »Nicht, weil ich mich habe erpressen lassen. Das wollen wir ein für allemal feststellen.«
»Aber das ist ja großartig, lieber David! Sie wissen nicht, wie sehr es mich freut, das zu hören.«
»Wie schön«, sagte Dave. »Wollen Sie jetzt bitte Sonja ersuchen, sich mit ihrem Reißverschluß zu beeilen. Ich habe seit dem Frühstück nichts gegessen und bin, ehrlich gestanden, halb verhungert.«
Die Gräfin war offenbar entzückt von Daves herrischem Ton, stand aber nicht auf.
»Was haben Sie sich denn vorgenommen? Es gibt so viele wunderbare Lokale, die Sonja noch nie –«
»Pfeifen wir auf die wunderschönen Lokale!« Dave streckte die Beine aus und legte sie einem plötzlichen Einfall folgend auf den obeinigen Marmortisch, der vor ihm stand. »In der Third Avenue gibts eine Kneipe, die mir gefällt, und dort gehn wir hin. Es gibt dort keinen roten Plüsch, aber der Wein ist rot, und die
Spaghetti schmecken gut. Außerdem ist es preiswert. Nachher – na ja, vielleicht werde ich nachher mit Sonja ins Kino gehen.«
»Oh ja«, sagte die Gräfin, fast keuchend vor Bewunderung. »Sonja geht furchtbar gern ins Kino.«
»Vielleicht gehen wir aber nicht ins Kino. Vielleicht gehen wir kegeln.«
»Ich glaube kaum, daß Sonja auch nur weiß, was kegeln ist, aber sie wird bestimmt –«
»Also, ich weiß nicht genau, was wir nach dem Essen machen werden. Momentan liegt mir nur daran, mir den Bauch vollzuschlagen. Wenn Sie also nichts dagegen haben, Frau Gräfin, sagen Sie Ihrer Tochter, sie möchte sich gefälligst beeilen.«
Sie stand auf und verschwand durch den gewölbten Durchgang, eine Minute später kehrte sie mit Sonja im Schlepptau zurück. Allem Anschein nach war das junge Mädchen schon seit geraumer Zeit fertig und hatte lediglich von ihrer erfahrenen Mutter die Weisung erhalten, sich zu zieren. Keinem Wachsfigurenkabinett war je eine so perfekte Erscheinung gelungen. Jede einzelne weiche, schwarze Locke war an der richtigen Stelle festgeklebt. Das blaue Seidenkleid, mit gebauschten Ärmeln und weitem Rock, war nach ihrer mageren Figur modelliert, um die fleischlosen Rippen und den, wie Dave entdeckte, erstaunlich üppigen Busen zu betonen. Die Gräfin hatte offenbar ihren hervorragenden Farbensinn auf Sonjas schmales Gesicht angewandt, und das Ergebnis war verblüffend. Ihre Haut war von phosphoreszierender Weiße, der Mund rot wie eine Feuerspritze, die hellen, lavendelfarbenen Augen mit schwarzer Tusche nachgezogen. Sie war wirklich eine Schönheit, das wußte Dave gebührend zu schätzen. Aber sie wirkte nach wie vor unwirklich, überirdisch, ein Aquarell statt einer Frau.
»Hallo!« sagte er brüsk. »Fertig?«
Sie nickte schüchtern.
»Unterhalte dich gut, mein Kind«, sagte die Gräfin und hauchte einen Kuß auf die Wange ihrer Tochter. »Ich gehe gegen neun Uhr aus und werde vielleicht heute nacht überhaupt nicht nach Hause kommen.« Sie sah Dave an. »Eine dumme Sitzung, die plötzlich anberaumt wurde. Ich werde vielleicht in einem Hotel übernachten
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