Das graue distinguierte Leichentuch: Roman
Bob äußern müsse, ein paar kurze tröstende Worte. Sie hatte eine grüne Strickjacke über einem geblümten Hauskleid an und einen mit Straß besetzten Kamm in ihrem glatt zurückgekämmten schwarzen Haar. Sie schien nicht Trauer zu tragen, also redete er sich den Gedanken aus, etwas sagen zu müssen. Erst als sie beim Haus der Bernsteins ankamen, einem roten Backsteinbau, der eigentlich nicht viel mehr als ein ausgebauter Bungalow war, sah Dave, wie ihr Kummer sich Luft gemacht hatte. Das Haus selber trauerte um den Toten. An sämtlichen Fenstern waren die Jalousien herabgezogen und an den Schlafzimmerfenstern die Läden geschlossen. Der Rasen war ungepflegt, von Unkraut überwuchert, verwahrlost. Als sie eintraten, konnte nicht einmal die Deckenbeleuchtung, die sie im Flur anknipste, die Düsternis verscheuchen.
Sie setzten sich in das halbdunkle Wohnzimmer vor ein großes, verhangenes Fenster.
»Möchten Sie etwas trinken?« fragte Ruth Bernstein. »Ich trinke etwas, falls Sie es wissen wollen.«
»Gut«, erwiderte Dave.
Sie holte zwei Gläser und eine Flasche und stellte einen Eiskübel auf den modernistischen Kaffeetisch. Dann setzte sie sich auf einen Plastikstuhl, der ein Loch hatte, und streifte mit einem Seufzer die hochhackigen Schuhe ab.
»Ich sehe Ihnen an, Dave, was in Ihrem Kopf vorgeht«, sagte die kluge kleine Frau. »Sie fühlen sich verpflichtet, eine Rede zu halten und mir Ihr Beileid auszudrücken. Ersparen Sie sich die Mühe. Ich habe mir so viele Reden anhören müssen, und sie helfen einem nicht.«
»Es tut mir leid.«
»Also schön, mehr brauchen Sie nicht zu sagen. Ihnen tut es leid, mir tut es leid. Damit Schluß.«
»Ich weiß, es ist nicht gerade der rechte Augenblick, um Sie zu belästigen, Ruth, und ich würde es auch nicht tun, wenn es nicht wichtig wäre.«
»Bitte! Ich freue mich, wenn mir jemand Gesellschaft leistet. Man fürchtet sich vor mir, die Leute haben wohl Angst, ich würde ihnen etwas vorheulen. Glauben Sie mir – ich werde nicht weinen.«
»Es war ein furchtbarer Schock. Ich weiß, wie schrecklich es für Sie gewesen sein muß – so plötzlich –«
»Sie wissen wahrscheinlich gar nicht, was geschehen ist?«
Dave fühlte sich schuldig. »Eigentlich nicht. In der Zeitung war nur von diesem Unfall die Rede.«
»Wenn ich bloß da gewesen wäre«, sagte Ruth Bernstein versonnen. »Wäre ich nicht weggegangen –«
»Sie waren also nicht zu Hause, als es passiert ist?«
»Nein. Freilich hätte ich nichts daran ändern können. Ich verstehe nichts von solchen Dingen – von diesen komplizierten Apparaturen, die er in seinem Atelier und in der Dunkelkammer installiert hatte. Sie wissen doch, wo er gearbeitet hat – in der umgebauten Scheune hinter dem Haus?«
»Bob hat es mir gezeigt.«
»Jetzt gibt es nichts mehr zu sehen. Alles ist weg, alles. Ich hätte nie gedacht, daß der Beruf eines Fotografen so gefährlich wäre – wie der eines – sagen wir – Lastwagenchauffeurs. Man nimmt eine Kamera, man drückt auf den kleinen Knopf – was sollte daran gefährlich sein?« Sie nippte an ihrem Glas.
»Wo waren Sie denn, Ruth, als es passierte?«
»In der Bronx, wo wir früher wohnten. Meine Mutter wohnt noch immer dort, im selben Mietshaus. Sword’s Point gefällt ihr nicht, es hat ihr zu viele Gojim. Gerade an diesem Tag hatte ich mich entschlossen, sie zu besuchen. Ich dachte nicht, daß Bob mich brauchen würde. Ich wußte, er würde beschäftigt sein – er sollte eine Porträtaufnahme machen.«
»Hat Bob Porträtaufnahmen gemacht?«
»Ja, damit hat er angefangen. Im Atelier seines Vaters – in der Bronx. Erst später ist er in diese verrückte Werbebranche gegangen. Aber als er den Burke-Baby-Job verlor, nahm er gerne wieder Porträt-Aufträge entgegen. Als er mir sagte, er habe nachmittags Aufnahmen zu machen, da dachte ich mir, fein, ausgezeichnet, gerade der richtige Zeitpunkt, um Mama zu besuchen.«
Dave stellte sein Glas hin. »Verstehe ich Sie recht, Ruth? Er hat die Porträtaufnahmen an seinem – an dem Tag gemacht, als das Unglück passierte?«
»Richtig. Jemand hatte morgens angerufen und die Zeit ausgemacht. Bob war selber am Telefon.«
»Wissen Sie, wer es war?«
»Keine Ahnung.«
»Mann oder Frau?«
Ruth zuckte die Achseln.
»Wann war das? Ich meine die Verabredung?«
»Das weiß ich nicht. Aber das Unglück muß – wie man annimmt – gegen halb fünf passiert sein. Man hat sich bei den Nachbarn erkundigt – ich meine die
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