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Das graue distinguierte Leichentuch: Roman

Titel: Das graue distinguierte Leichentuch: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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den Leitungsdraht zwischen Long Island und Manhattan zu Eis erstarren zu lassen.
    »Ich habe mir überlegt, Frau Gräfin, was wir gestern besprochen haben. Vielleicht war es ein wenig übereilt von mir, und wenn Sonja mir nicht allzu böse ist –«
    »Böse? Aber David, Sonja würde Ihnen nie etwas übelnehmen!«
    »Das ist ja wunderbar. Sagen Sie bitte Sonja, daß ich sie sehr gern heute abend treffen möchte, und wenn sie es schaffen kann, in die Stadt zu kommen –«
    »Da gibt es nichts zu schaffen. Sie ist seit gestern bei mir in der Wohnung. Sie können sie dort abholen.«
    »Gut. Sagen Sie ihr bitte, daß ich gegen sieben Uhr da bin.«
    »Und was die Theaterkarten betrifft – wenn ich noch vor zwölf meine Bekannten im Theater anrufe, dann kann ich vielleicht –«
    »Kümmern wir uns nicht um die Theaterkarten. Und Sie dürfen sich auch die Tischbestellung ersparen. Wenn Sie nichts dagegen haben, will ich selber den Abend organisieren.«
    »Natürlich habe ich nichts dagegen, David. Es war nie meine Absicht –«
    »Freilich, das weiß ich, Frau Gräfin. Dann sehe ich also beide Damen gegen sieben.«
    Er legte auf, teils befriedigt, teils bedrückt. Dann rief er Louise herein.
    »Ich bleibe den ganzen Tag weg«, sagte er zu ihr. »Tun Sie mir den Gefallen und holen Sie den Burke-Probeabzug aus der künstlerischen Abteilung, sobald er montiert ist. Die Versandabteilung soll ihn für die Zusammenkunft am Montag einpacken und das da mit dazu legen.« Er nahm den blau eingebundenen NielsenMarktbericht aus der obersten Schublade und reichte ihn Louise.
    »Kann ich Sie irgendwo erreichen?« fragte sie.
    »Nein. Nur für den Notfall – ich meine, Notfall, falls das Gebäude einstürzt beispielsweise – ich bin in Sword’s Point zu Besuch bei Mrs. Bernstein.«
    Als der Zug um zwölf Uhr achtundvierzig schwerfällig rumpelnd aus dem Grand Central rollte, betrachtete Dave die Reihen leerer Sitzplätze und stellte fest, daß er fast schon ein Pendler geworden war, allerdings ohne die Vorzüge des Wohnens außerhalb der Stadt zu genießen. Vor nicht allzu vielen Tagen hatte er dieselbe Fahrt zu Bob Bernsteins bescheidenem Landhaus angetreten, die Zwischenzeit war durch drei Todesfälle akzentuiert worden – einschließlich dem Bernsteins. Bei diesem Gedanken senkte sich eine tiefe Niedergeschlagenheit auf ihn herab, die sich vor allem in seinem Magen bemerkbar machte.
    Aber Daves Schwermut hatte noch andere Gründe. Der kühne Entschluß, am Montag den Burke-Baby-Schwindel aufzudecken, kam ihm jetzt übereilt und nicht sehr aussichtsreich vor. Es gab allzu viele Elemente, aus denen er nicht schlau wurde. Vor allem Willie Shenks verblüffende Enthüllung, daß er Kermit Burke in Annie Ganders Nähe gesehen habe. Was hatte die beiden zueinandergeführt? Annies Erpressungen hätten nur dann einen Zweck gehabt, wenn Kermit Burke von ihrer verwandtschaftlichen Beziehung zu dem glucksenden Wickelkind in den Baby-Food-Annoncen nicht die leiseste Ahnung hatte, und sie würde alles getan haben, um jeden Kontakt mit ihm zu vermeiden. Es ergab keinen Sinn.
    Trotzdem wußte Dave, daß er seine Absicht durchführen würde. Er unterlag dem Zwang, die Wahrheit ans Licht zu bringen und festzustellen, welche Reaktion sie auslösen würde. Solange es Geheimnisse gab, würde er sich durch allzu viele Zweifel und Befürchtungen gefesselt fühlen. Die Wahrheit, dachte er, mit einem schiefen Lächeln, die Wahrheit macht dich frei...
    Und dann war da Bernsteins Witwe. Ruth Bernstein, eine gemütliche kleine Frau, mit den Zügen einer alternden Madonna, hatte am Telefon erfreut und heiter geklungen, aber er zitterte vor der Begegnung mit ihr. Nicht ein einziges Mal seit dem Tod ihres Mannes hatte er angerufen und ihr nicht einmal den üblichen Kondolenzbrief geschickt. Was würde sie von ihm denken, wenn sie erfuhr, daß sein Besuch rein eigennützigen Motiven entsprang?
    Noch schlimmer war ihm zumute, als er in Sword’s Point ausstieg und ihre kurzbeinige Gestalt auf dem Parkplatz neben einem grauen Morris Minor stehen sah. Sie winkte ihm zu und lächelte, als er nahe genug herangekommen war, um ihren Gruß gebührend schätzen zu können.
    »Ich bat Sie doch, mich nicht abzuholen«, sagte er mit sanftem Vorwurf. »Ich hätte mir ein Taxi nehmen können.«
    »Ich hatte nichts anderes zu tun. Hoffentlich ist Ihnen das Wägelchen nicht gar zu klein.«
    Sie setzte sich ans Steuer, und er stieg zu ihr ein. Er wußte, daß er nun etwas über

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