Das Grauen im Museum
Treppe hinab. Jones hörte, wie sich seine Schritte entfernten, und wußte, daß seine lange, schwere Nachtwache begonnen hatte. Später, in der pechschwarzen Finsternis des großen Kellergewölbes, verwünschte Jones seine kindliche Naivität, die ihn in diese Lage gebracht hatte. Während der ersten halben Stunde hatte er in gewissen Abständen seine Taschenlampe eingeschaltet, aber jetzt saß er nur in der Dunkelheit auf einer der Besucherbänke. Der Lichtstrahl der Taschenlampe hatte jedesmal ein anderes groteskes Objekt beleuchtet eine Guillotine, ein namenloses hybrides Monster, ein bärtiges, unheildrohendes Gesicht, einen Körper, dem das Blut aus der durchschnittenen Kehle quoll. Jones wußte, daß diese Dinge nicht Wirklichkeit waren, aber nach der ersten halben Stunde war es ihm doch lieber, sie nicht ansehen zu müssen.
Warum er dem Verrückten diesen Gefallen getan hatte, wußte er kaum noch zu sagen. Es wäre ja viel einfacher gewesen, den Mann einfach sich selbst zu überlassen oder ihm einen Psychiater ins Haus zu schicken. Wahrscheinlich, so überlegte er, war es die Sympathie, die ein Künstler für einen anderen empfindet. Rogers war so hochbegabt, daß man ihm einfach helfen mußte, seine wachsende Manie zu überwinden. Jemand, der so unglaublich lebensechte Figuren ersinnen und modellieren konnte, war sicherlich nicht weit von wahrer künstlerischer Größe entfernt. Er besaß die Phantasie eines Sime oder eines Dore und das hervorragende handwerkliche Können eines Blatschka. Er hatte für die Welt des Horrors das gleiche getan, was die Blatschkas mit ihren wundervoll genauen Pflanzenmodellen aus feinstem gefärbtem Glas für die Welt der Botanik getan hatten.
Um Mitternacht drangen die Schläge einer fernen Kirchturmuhr durch die Dunkelheit, und Jones war dankbar für diese beruhigende Botschaft aus der noch existierenden Außenwelt. Das Museumsgewölbe war wie eine Gruft gespenstisch und entsetzlich einsam. Selbst eine Maus wäre Jones jetzt als Gesellschaft willkommen gewesen, aber Rogers hatte sich einmal gerühmt, daß »aus bestimmten Gründen«, wie er sagte, keine Mäuse oder auch nur Insekten jemals in das Gewölbe kamen. Das war in der Tat merkwürdig, schien aber zu stimmen. Es herrschte absolute Totenstille. Wenn nur irgend etwas zu hören gewesen wäre! Er scharrte mit den Füßen, und die Echos vervielfältigten sich gespenstisch in der Stille, aber in dem Stakkato-Widerhall klang etwas wie Spott mit. Er schwor sich, nicht anzufangen, mit sich selbst zu reden. Das wäre ein Zeichen eines beginnenden
Nervenzusammenbruchs gewesen. Die Zeit schien abnorm langsam zu vergehen. Er hätte schwören können, daß schon Stunden vergangen waren, seit er zum letztenmal auf die Uhr gesehen hatte, und doch war es eben erst Mitternacht gewesen. Wenn nur seine Sinne nicht so übernatürlich wach gewesen wären. Irgend etwas in der Dunkelheit und Stille schien sie geschärft zu haben, so daß sie schon auf schwächste Reize reagierten. Von Zeit zu Zeit schien es ihm, als hörte er ein ganz leises Summen, bei dem es sich eigentlich nicht um die normalen Nachtgeräusche der schmutzigen Straßen draußen handeln konnte, und er dachte an irrelevante Dinge wie die Sphärenmusik und das unbekannte, unzugängliche Leben fremder Dimensionen, das in das unsere eindringen kann. Rogers hatte oft über solche Dinge spekuliert. Die schwebenden Lichtpünktchen vor seinen durch die Dunkelheit geblendeten Augen bewegten sich in seltsam symmetrischen Mustern. Er hatte sich oft gefragt, was es mit diesen seltsamen Lichtstrahlen aus unergründlicher Tiefe auf sich hatte, die bei fehlender irdischer Beleuchtung vor uns funkeln, hatte aber noch nie welche beobachtet, die sich so verhielten, wie diese sich jetzt verhielten. Was ihnen fehlte, war die gelassene Ziellosigkeit gewöhnlicher Lichtfünkchen, und dadurch entstand der Eindruck eines von jeder irdischen Vorstellung entfernten Willens.
Und dann kam dieser seltsame Eindruck, daß sich irgendwo etwas rührte. Es stand nichts offen, so daß keinerlei Zugluft entstehen konnte, und doch spürte Jones, daß die Luft nicht ganz ruhte. Er meinte, fast unmerkliche Druckschwankungen wahrzunehmen, die aber nicht ganz so stark waren, daß sie von, unsichtbar herumtappenden widerwärtigen Elementargeistern hätten stammen können. Auch war es ungewöhnlich kalt. Das alles gefiel ihm überhaupt nicht. Die Luft schmeckte salzig, wie nach dem Abschaum dunkler unterirdischer
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