Das Grauen in den Bergen
Viehzüchter betätigte. Allerdings zog ihn ein merkwürdiger Drang immer wieder nach Osten, in Richtung der alten Heimat. Es sind Briefe von ihm erhalten, in denen er sich darüber beklagt, dass »die hässliche Gegend keine Ruh‘« gibt. Seine Träume wurden zusehends verstörender und er litt unter Ohnmachtsanfällen. Meine Eltern glauben, dass Thomas den Wahnsinn frühzeitig nahen spürte. Er versuchte ihm zu entkommen, indem er sesshaft wurde. Doch die Heirat und selbst der Sohn, den ihm seine Frau schenkte, vermochten keine Linderung zu bringen. Der ostwärts gerichtete Sog, der ihn mit jedem Tag stärker quälte, blieb unerbittlich bestehen. Ein Schreiben seiner Ehefrau belegt, dass Thomas manchmal mit entrücktem Blick davonlief und erst viele Kilometer entfernt in völlig verwirrtem Zustand wieder aufgelesen werden konnte. Eines Tages verschwand er schließlich spurlos. Meine Eltern sind sich sicher, dass er zu den Bergen zurückkehrte und dort den Tod fand.
Thomas‘ Sohn – mein Großvater – Jeremy wurde in die Armee einberufen, als er dreißig Jahre alt war. Er kämpfte im amerikanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Nordstaaten und kehrte im Verlauf der Schlachten unfreiwillig nach Neuengland zurück. Zwar überlebte er den Krieg, doch holte ihn währenddessen sein Schicksal ein: Jeremy fand heraus, dass seine Ahnen irgendwo in den Bergen gehaust hatten und stellte Nachforschungen an, um Genaueres darüber in Erfahrung zu bringen. In den Kriegswirren war es verhältnismäßig leicht, an Briefe und sonstige persönliche Aufzeichnungen zu kommen, schließlich konnten die Besitzer jener Schriftstücke in vielen Fällen nicht mehr protestieren.
Seiner hartnäckigen Suche sind etliche der Quellen zu verdanken, aus denen mein Vater in seinem Buch zitiert. Unweigerlich erfuhr Jeremy so von William und dem rätselhaften Stein. Er fand auch das »Ding«, das William hatte errichten lassen, war jedoch nicht so dumm, es betreten oder einnehmen zu wollen. Stattdessen forschte er nach Wegen, wie er ihm auf andere Art Herr werden konnte. Er entwickelte eine regelrechte Obsession für Sprengstoffe und führte zahlreiche gefährliche Experimente durch, die ihm schon bald einen üblen Ruf einbrachten. Er war weithin als verrückt verschrien, und wäre jene Zeit nicht einigermaßen aufgeklärt gewesen, hätte man ihn wohl wie seinen Vorfahren einen Hexer geschimpft. Jeremy war dermaßen besessen von seinem Vorhaben, dass es mir wie ein Wunder vorkam, von seiner Eheschließung im Jahr 1870 zu lesen. Immer wieder begab er sich in die Berge, um die Früchte seiner Arbeit zu testen, kehrte aber jedes Mal enttäuscht und frustriert zurück. Eines Tages geschah das Unvermeidliche: Jeremy starb bei der Erprobung eines revolutionären Explosivstoffes, mit dem er »das Scheusal bezwingen« wollte. Er hinterließ seine Frau Judith sowie die beiden Kinder Erica und Frederick.
Weibliche Coldlowes scheinen vom Schicksal nicht gerade begünstigt zu sein, denn auch Erica blieb kinderlos. Frederick hingegen zeugte einen Sohn, wie wir nur zu gut wissen. Und was aus jenem Sohn geworden ist, erfährst du soeben, Magdalene.
***
Als ich das Buch zuschlug, hatte die Sonne den Zenit längst überschritten. Zumindest vermutete ich das, denn der Raum besaß keine Fenster. Und selbst falls ich hätte hinausblicken können, wäre dort nur das deprimierende, nebelverhangene Zwielicht zu sehen gewesen.
Ich legte den Text weg, obwohl ich an einer Stelle angelangt war, die mich mehr als alles bisher Gelesene interessierte. Mir blieb keine Wahl, denn Vater wechselte bei ebenjener Passage in die mir unbekannte Sprache. Was immer er selbst zu der Geschichte beizutragen hatte, er wollte es nicht so einfach mit der Welt teilen.
Ich raufte mir die Haare. Es musste einen Weg geben, das unverständliche Kauderwelsch zu entschlüsseln! Mein Blick ging nach oben, wo die Bücher sich türmten. Möglicherweise enthielt ja einer der zahlreichen Bände des Rätsels Lösung. Mit etwas Glück mochte ich ein Exemplar finden, das sich mit obskuren Sprachen und Codes befasste.
Ich hätte mir denken können, dass Vater es mir nicht so leicht machen würde. Selbstverständlich fand sich nichts Brauchbares zwischen all den Buchdeckeln. Also schön, dann würde ich eben in die Stadt gehen und mich in den dortigen Bibliotheken umsehen! Was immer Frederick von Coldlowe niedergeschrieben hatte, ich musste es wissen! Es hatte mich gepackt wie ein Sturmwind,
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