Das Grauen in den Bergen
werden soll. Ihn brilliant zu nennen, wäre untertrieben; er ist schlicht der intelligenteste Mensch, der mir je untergekommen ist. Doch war dieser Verstand vielleicht zu groß für einen durchschnittlichen Menschenschädel, denn seine Seele war labil.
Als ich ihn kennenlernte, glich Edward einem zuckenden, sabbernden Häufchen Elend. Allerdings machte er rasch Fortschritte, erholte sich schließlich vollständig und durfte das Sanatorium sogar einige Wochen vor mir verlassen. Wir waren bis dahin recht gute Freunde geworden.
Ich bereitete das Paket in der Annahme vor, Edward würde inzwischen wieder unterrichten. Ich wollte sehen, was er zu den rätselhaften Blaupausen zu sagen hatte. Falls also das Postamt in der Stadt noch geöffnet hatte, wollte ich die Schachtel sofort auf die Reise schicken.
- Ein Code und ein Sog -
Die Fahrt durch die Wälder verlief ohne Zwischenfälle. Mrs. Pickmans treues Fahrzeug führte mich sicher und wohlbehalten über die verschlungenen Straßen. Kaum hatte ich etwas Abstand zwischen mich und das Dorf gebracht, tauchten am dämmrigen Himmel die ersten Sterne auf. Es war ungemein befreiend, der klammen Umarmung des Nebels zu entkommen. Gleichzeitig beschlichen mich aber auch seltsame Gedanken, während ich in die kalte Unendlichkeit des Weltenraums hinausstarrte. War es tatsächlich möglich, dass Williams Stein von dort oben gekommen war? Existierte er überhaupt? Und wenn ja, wo kam er her? Was sollte das für eine Macht sein, die ihm innewohnte? Und wer oder was hatte ihm jene Kraft gegeben?
Ich war froh, als ich das Flachland erreichte und im Lichtkegel der Scheinwerfer die ersten Anzeichen zivilisierten Lebens auftauchten, auch wenn es sich dabei nur um ein entlegenes Gehöft handelte. Der Anblick half mir dabei, die verstörenden Gedanken abzuschütteln – die Überzeugung, dass es draußen im All Abgründe gibt, die der Mensch sich nicht einmal ansatzweise ausmalen kann. Winkel, in denen Geschöpfe hausen, die sich unserem Begriffsvermögen so weit entziehen, dass ein Mann sofort sterben oder zumindest den Verstand verlieren würde, sollte er jemals eines davon erschauen. In einem unendlich großen Raum ist Platz für alles Mögliche und Unmögliche. Das Gesetz der Logik gebietet, dass es darin alles Erdenkliche geben muss. War an jenem schicksalhaften Tag im achtzehnten Jahrhundert, als William in den Besitz des Steins kam, etwas aus solch unmöglichen Regionen zu uns vorgedrungen?
***
Der Postbeamte wollte seine Filiale gerade schließen, als ich mein Gefährt schwungvoll davor zum Stehen brachte. Er schaute missmutig drein, nahm das Paket aber entgegen, nachdem ich freundlich und bestimmt auf die Dringlichkeit der Situation hingewiesen hatte.
Der Rest des Abends gestaltete sich ereignislos. Ich mietete wie geplant ein Zimmer in einem Motel, nahm ein spätes Mahl zu mir und ging zu Bett. Soweit ich mich erinnern kann, schlief ich traumlos. Allerdings muss sich mein Unterbewusstsein noch gewaltig mit den jüngsten Ereignissen beschäftigt haben, denn ich wachte mitten in der Nacht auf, weil mir etwas gegen den Kopf schlug. Als ich meine Sinne halbwegs beisammen hatte, wurde mir klar, dass ich nicht im Bett lag. Nein, unter meinen nackten Füßen waren kühle Holzdielen. Ich stand gegen die Tür des Motelzimmers gelehnt. Offenbar war ich geschlafwandelt und das Hindernis hatte mich gestoppt. Angst keimte in mir auf, als ich mich daran erinnerte, dass die Tür in Richtung der Berge hinausging. Aber ich habe mich schon merkwürdigere Dinge tun sehen und mich so manches Mal gefürchtet, wenn mein Verstand zu einer Reise ins Land des Irrsinns aufbrach. Außerdem handelte es sich bestimmt um einen dummen Zufall. Ich schob einen Beistelltisch vor die Tür, tat die Sache schulterzuckend ab und legte mich wieder hin.
***
Es kam mir beinahe so vor, als säße ich in dem geheimen Zimmer, so hoch stapelten sich zu beiden Seiten die Wälzer. Ich befand mich in der Bibliothek, genoss die gelehrige Stille und suchte verbissen nach einem Ansatzpunkt, um die fremde Sprache zu übersetzen – beziehungsweise die Geheimschrift zu entschlüsseln, je nachdem, was sich als zutreffend erweisen sollte.
Bislang hatte ich nur herausfinden können, womit ich es nicht zu tun hatte. Die unlesbaren Absätze waren weder in Dänisch, Deutsch, Estnisch, Finnisch, Flämisch, Französisch, Isländisch, Italienisch, Niederländisch, Norwegisch, Portugiesisch, Schwedisch,
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