Das Grauen in den Bergen
Vaters also auf Tatsachen beruhte, war das Geheimnis Williams gut gehütet worden. Es musste meine Eltern viele Stunden gekostet haben, die Informationen zusammenzutragen.
Bei meinen Überlegungen muss mich erneut der Schlaf übermannt haben. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist das Gefühl von Papier, das über meine Wange strich.
Ich fuhr auf, hörte einen erschrockenen Aufschrei und sah Mrs. Pickman hinter mir stehen. Die Alte hatte das Buch meines Vaters in den Händen. Ich musste nicht erst ihren schuldbewussten Gesichtsausdruck erblicken, um zu wissen, dass sie es unter meinem schlafenden Körper hervorgezogen hatte.
»Geben Sie es sofort wieder her«, herrschte ich sie an und entriss ihr den Folianten. »Sie wollten es mir wegnehmen! Haben diesen Raum wohl nie entdeckt, was?«
»Nein … nein«, jammerte Mrs. Pickman. »Es Ihnen bequemer machen, das wollt‘ ich. Für angenehm‘n Schlummer sorgen und …«
Ich war wie von Sinnen. Eine unbändige Wut packte mich und es war fast, als wären die Dämonen erneut aus mir hervorgebrochen. »Unsinn! Sie wollten es stehlen und vernichten. Das Haus konnten Sie nicht abbrennen, aber an das Buch haben Sie sich herangetraut. Ich gebe es nicht her! Es gehörte meinem Vater und ist jetzt mein!«
Die Alte ging rückwärts aus dem geheimen Raum hinaus. »Aber so hör’n Se doch … ich wollt‘ doch nur …«
Der Stuhl schabte über die Bodendielen, als ich ihn vom Schreibtisch zurückschob. Die Lehne stieß bereits nach wenigen Zentimetern an die gegenüberliegende Wand und ließ mir kaum genügend Platz, um mich emporzustemmen.
»Raus!«, schrie ich. »Aus meinen Augen! Und wenn Sie noch einmal unangekündigt im Haus auftauchen, garantiere ich für nichts!«
»Junger Herr, beruhig’n Se sich doch! Ich wollt‘ helfen. Sie sollt’n die Dinge in dem Buch nicht wissen, es würd‘ Sie nur verderben!«
Nun war ich endgültig nicht mehr Herr meiner selbst. Meine Hand schoss vor, packte die Alte am Kragen und schob sie durch das Wohnzimmer zum Eingang. Ich riss die Tür auf, stieß Mrs. Pickman in das fahle Licht des Morgens und zischte ihr hinterher: »Verschwinden Sie, ehe ich mich vergesse!«
Sie taumelte, fiel aber nicht. Bevor ich die Tür ins Schloss werfen konnte, sah sie mich noch einmal an. Nacktes Entsetzen verzerrte ihre Miene, als sie murmelte: »Gott steh‘ uns bei, ‘s hat schon begonnen.«
- Eine Veränderung und eine Fahrt -
Den Rest jenes Morgens verbrachte ich über dem Buch brütend. Anfangs rieb ich mir die Stelle, an der mein Arm verbunden war, denn die Anstrengungen des Wutausbruchs hatten die Wunden wieder aufreißen lassen. Doch mit der Zeit vergaß ich alles um mich herum, selbst die Spuren, die Boxers Zähne in mir hinterlassen hatten. Aus dem Grab heraus spann mich mein Vater in einen dichten Kokon aus Andeutungen und Enthüllungen, aus Faszinierendem und Entsetzlichem ein.
Die Familienchronik wurde mit Williams Söhnen fortgesetzt. Einer der beiden – Richard – hörte auf seine Mutter und verließ die abgeschiedene Gegend. Er ließ sich in Providence nieder, eröffnete ein Lebensmittelgeschäft und gründete eine eigene Familie. Er zeugte drei Kinder – ein Sohn, zwei Töchter –, ehe ihn im Alter von 32 Jahren der Wahnsinn packte und er sich mit einem Strick um den Hals vom Dach seines Hauses stürzte. Noch während er in der Schleife baumelte, soll er gegurgelt haben: »Es singt zu mir. Es singt noch immer! Es lässt mich nicht gehen …«
Williams zweiter Sohn Peter blieb in der Nähe der Berge. Er scharte eine Truppe Männer um sich, bewaffnete sie und zog aus, um seinen Vater zu töten. Weshalb er das tun wollte, fanden meine Eltern leider nie heraus. Nur eine Handvoll Kämpfer kehrte zurück. Peter entließ die Überlebenden aus seinen Diensten, entlohnte sie fürstlich und bat sie um Vergebung. »Sorget dafür, dass jener Flecken Erde vergessen wird. Er ist eines jeden Mannes Untergang«, soll er zu ihnen gesagt haben. Kurze Zeit später fiel er im Unabhängigkeitskrieg.
Richards Kinder wuchsen in Providence auf. Die beiden Töchter Laura und Lisa heirateten einflussreiche Geschäftsmänner, blieben jedoch kinderlos. Ihr Bruder Thomas hatte offenbar die Coldlowe’schen Tugenden vererbt bekommen, denn er war ein Abenteurer durch und durch. Er ging in den Westen, wo das Leben deutlich mehr Gefahren und Herausforderungen zu bieten hatte und vergrößerte sein Vermögen, indem er sich erfolgreich als
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