Das Grauen in den Bergen
war wieder zu vernehmen, doch sie war schwach und weit davon entfernt, meine Selbstbeherrschung auf die Probe zu stellen.
»Ich kann mir vorstellen, wie das auf Sie wirken muss«, erwiderte ich. »Vermutlich war mein Vater genauso halsstarrig. Und mir will auch kein logischer Grund dafür einfallen, dass ich hierbleiben und mir jenes Ding ansehen möchte. Aber ich muss es tun. Vielleicht besiegelt es mein Schicksal, vielleicht offenbart es mir etwas, vielleicht geschieht gar nichts, wer weiß. Aber Sie können mich nicht von meinem Vorhaben abbringen. Sie sind eine herzensgute und hilfsbereite Frau, Mrs. Pickman. Bitte grämen Sie sich nicht, denn Sie haben sich nichts vorzuwerfen, was auch immer geschehen mag.«
Sie blieb stehen, stemmte die Hände in die Hüften und legte den Kopf schief. Man konnte förmlich dabei zusehen, wie es hinter ihrer Stirn zu arbeiten begann. Mindestens eine Minute verstrich, ehe sie murmelte: »Na schön. Ich hab’s weiß Gott versucht, das hab ich. Wenn Sie’s denn so woll’n, dann machen Se’s.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber ein‘ Gefall’n müssen Se mir noch tun, sonst fühl‘ ich mich wie‘n schlechter Gastgeber.«
Ich runzelte die Stirn. »Natürlich. Wovon sprechen sie?«
»Trinken Se gefälligst ne ordentliche Tasse Tee mit mir, junger Herr. Ich kann Sie doch nich‘ einfach Ihr‘m Schicksal überlassen, durchgefror‘n, wie Se sind.«
Selbstverständlich willigte ich ein. Wer war ich, einer einsamen alten Dame eine Bitte abzuschlagen? Außerdem war mir wirklich kalt, selbst der Kamin hatte die Taubheit nicht aus meinen Fingern vertreiben können.
Mrs. Pickman hängte eine Kanne über die Flammen, verschwand in der Küche und kehrte kurz darauf mit zwei Tassen, Löffeln und kleinen Stoffbeutelchen zurück, in die seltsame Kräuter eingeschlagen waren.
»Meine eig‘ne Mischung«, schnarrte sie lächelnd. »Alles selbst gepflückt und getrocknet, jawohl!«
Mithilfe eines Lappens nahm sie die Kanne aus dem Kamin, goss ein und hängte die Beutel in die Tassen. Sie starrte ins Leere, während ihre Lippen stumme Worte formten. Bald wurde mir klar, dass sie vor sich hin zählte. Etwa zwei Minuten vergingen auf diese Weise, dann fischte Mrs. Pickman die Beutel wieder aus den Behältnissen und verkündete: »Bitt’schön, junger Herr. Lass’n Se sich’s munden. Wer weiß, wann Se das nächste Mal was trinken, wenn Se erst wieder über dem Buch sitzen.«
Das Getränk schmeckte bitter und entsprach überhaupt nicht meinem Geschmack. Aber ich wollte die Alte nicht kränken, also würgte ich alles tapfer hinunter. Als ich die Tasse bis auf den letzten Tropfen geleert hatte, wurde mir schwindlig.
»So ist’s gut«, krächzte Mrs. Pickman. »Brav alles ausgetrunk’n haben Se. Sie les‘n heut‘ keine bösen Schriften mehr, soviel is‘ sicher.«
Viel zu spät wurde mir klar, dass sie ihren Tee nicht angerührt hatte. Der Raum begann sich um mich zu drehen, alles verformte sich, zerfloss und gerann zu verschwommenem Gallert.
»Was … was haben Sie getan?«
»Ham Se keine Angst«, drang ihre kratzige Stimme zu mir. »‘s bringt Sie nich‘ um, aber ‘s wird Se ord‘ntlich schlafen schicken. Sie ham doch nich‘ allen Ernst’s geglaubt, ich würd‘ Se sich umbringen lass‘n, oder?«
Die Stimme wurde immer hohler. Ihr Echo hallte in meinem Kopf, wie ein Gummiball, der von den Innenseiten des Schädels abprallte. Ich wollte aufstehen, doch ich sah den Tisch nicht mehr. Meine Hände glitten ab, die Beine knickten ein. Den Aufprall spürte ich kaum. Es fühlte sich an, als wäre mein Körper in weiche Daunen gebettet. »Sie … mich … vergiftet …«
An mehr entsinne ich mich nicht.
***
Als ich zu mir kam, glich mein Kopf einer Triangel, die fortwährend angeschlagen wurde. Ein schaler, unangenehmer Geschmack haftete mir im Mund, meine Augen hatten Schwierigkeiten, sich auf etwas zu fokussieren … und ich war unfähig, mich zu bewegen.
»Oh, schon erwacht?«, krächzte es von meinen Füßen her. »Ein zäher Bursche, das sind Se.«
Ich konnte fühlen, wie sich etwas um meine Knöchel legte und festgezogen wurde.
»Aber verschnürt sind Se jetzt trotzdem, jawohl.«
Mrs. Pickman trat in mein Blickfeld und beugte sich zu mir herab. »Versuch’n Sie gar nich‘ erst, sich zu befrei’n. Meine Knoten sind fest, und außerdem hab ich Ihnen nen Bewacher zugeteilt.«
Als habe das Vieh jedes Wort verstanden, ließ Boxer ein bedrohliches
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