Das Graveyard Buch
ganze Nacht.
Er hob schon den Arm.
»Wenn es wirklich ein weinendes Kind war«, sagte der Friedhofswärter, ohne sich umzudrehen, »dann b e stimmt nicht hier auf dem Friedhof. Bestimmt h a ben Sie sich getäuscht. Es ist doch sehr unwahrschei n lich, dass ein Kind hier hereingekommen sein soll. Bestimmt haben sie einen Nachtvogel schreien hören und eine Katze oder einen Fuchs vorbeihuschen s e hen. Vor dreißig Jahren, als hier die letzte Beerdigung stattfand, hat man den Frie d hof zum Natu r schutzgebiet erklärt. Denken Sie noch einmal genau nach, ob Sie sicher sind, dass Sie ein Kind gesehen haben.«
Der Mann namens Jack dachte nach.
Der Fremde schloss die Seitenpforte auf. »Ein Fuchs«, sagte er. »Füchse geben ganz merkwürdige Laute von sich, fast so, als ob ein Mensch weint. Nein, Ihr Besuch auf diesem Friedhof war ein Irrweg. Das Kind, das Sie suchen, wartet irgendwo auf Sie, aber es ist nicht hier.« Er wartete einen Augenblick, damit sich dieser Gedanke tief in Jacks Gemüt festsetzte, dann stieß er mit einem Schwung die Pforte auf. »Es hat mich gefreut, Ihre B e kanntschaft zu machen. S i cher werden Sie da draußen alles finden, was Sie brauchen.«
Der Mann namens Jack stand wieder draußen vor der Pforte. Der Fremde schloss von innen ab und steckte den Schlüssel wieder ein.
»Wo gehen Sie jetzt hin?«, fragte Jack.
»Es gibt noch mehr Tore«, erläuterte der Fremde. »Mein Auto steht auf der anderen Seite. Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Sie brauchen sich auch nicht an dieses Gespräch zu erinnern.«
»Nein«, sagte Jack zustimmend, »das tue ich nicht.« Er erinnerte sich, wie er den Hügel heraufg e kommen war. Dann hatte sich das, was er für ein Kind gehalten hatte, als ein Fuchs herausgestellt. Ein freundlicher Friedhofswärter hatte ihn wieder auf die Straße hinausg e lassen. Er steckte das Messer wieder in die Scheide. »Al so dann G u te Nacht.«
»Gute Nacht«, verabschiedete sich der Fremde, den Jack für den Friedhofswärter gehalten hatte.
Der Mann namens Jack lenkte seine Schritte hügela b wärts auf der Suche nach dem Kind.
Aus dem Schatten beobachtete der Fremde den Mann namens Jack, bis dieser verschwunden war. Dann begab er sich im Dunkeln zu dem ebenen Platz unterhalb der Hauptanhöhe, wo ein Obelisk und eine Grabplatte an e i nen gewissen Josiah Worthington erinnerten. Mr Worthington war ein erfolgreicher Bierbrauer und Polit i ker, der später zum Freiherrn geadelt wurde. Vor über dreihundert Jahren hatte er den alten Friedhof samt dem angrenzenden Land g e kauft und alles der Stadt auf Dauer überschrieben. Für sich selbst hatte er den besten Platz auf dem Hügel als Ruhestätte ausgesucht – ein natürl i ches A m phitheater mit Blick auf die ganze Stadt und noch weiter – und dafür gesorgt, dass der Friedhof als so l cher erhalten blieb. Die Friedhofsbewohner waren ihm dankbar dafür, wenngleich nicht so, wie sich Sir Josiah Worthington das vorgestellt hatte.
Alles in allem mochten zehntausend Seelen den Frie d hof bevölkern, doch die meisten lagen im Tie f schlaf oder zeigten kein Interesse an den allnächtl i chen Umtrieben. So waren nicht mehr als dreihundert von ihnen im A m phitheater versammelt.
Auf leisen Sohlen wie der Nebel kam der Fremde zu dem mondbeschienenen Platz, hielt sich aber im Schatten und beobachtete von dort aus schweigend die Versam m lung.
Josiah Worthington sprach gerade. »Meine liebe gn ä dige Frau«, sagte er, »Ihre Hartnäckigkeit ist schon … nun ja, ist Ihnen denn nicht klar, wie läche r lich das ist?«
»Nein«, erwiderte Mrs Owens, »das ist mir nicht klar.« Sie saß im Schneidersitz auf dem Boden, mit dem lebe n den Kind im Schoß, und stützte dessen Kopf mit ihren blassen Händen.
»Mit Verlaub, Euer Ehren«, schaltete sich Mr Owens ein, der neben ihr stand, »Mrs Owens möchte Ihnen nur begreiflich machen, dass sie es nicht so sieht, im Gege n teil, sie betrachtet es als ihre Pflicht.«
Mr Owens hatte Josiah Worthington noch als leibha f tigen Menschen in Erinnerung, als beide noch am Leben waren. Ja, er hatte mehrere teure Möbelstücke für Worthingtons Herrenhaus draußen in Inglesham angefe r tigt und hatte immer noch großen Respekt vor ihm.
»Ihre Pflich t?« Sir Josiah schüttelte den Kopf, als wo l le er ein paar Spinnfäden loswerden. »Eine Pflicht haben Sie nur gegenüber der Bürgerschaft des Friedhofs, W e sen ohne Fleisch und Blut, Geister, Wiedergänger und E r scheinungen. Dieses Wesen
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