Das Graveyard Buch
zurückweisen, »will ich nicht, dass der Kleine Sie stört.«
»Er stört mich nicht.«
Der Junge hatte die Banane gegessen. Was er nicht vertilgt hatte, befand sich auf seinem Gesicht und auf seinem Schlafanzug. Er strahlte, verschmiert und apfe l backig .
»Nane«, sagte er freudig.
»Was für ein schlaues Kerlchen«, sagte Mrs Owens. »Und was für eine Sauerei er gemacht hat! Warte, du kleiner Schmierfink …« Und sie wischte ihm die Bana ne n reste aus dem Gesicht und aus den Haaren. »Was meinen Sie, wie sich die Versammlung entscheiden wird?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich kann ihn nicht mehr hergeben. Schon gar nicht nach all dem, was ich seiner Mutter verspr o chen habe.«
»Obwohl ich zu meinen Lebzeiten alles Mögliche g e wesen bin«, sagte Silas, »bin ich doch nie Mutter gew e sen. Und ich habe nicht vor, jetzt damit anz u fangen. Aber ich kann diesen Ort verlassen …«
Mrs Owens sagte nur: »Ich nicht. Meine Knochen li e gen hier. Und auch die meines Mannes. Ich werde für immer hierbleiben.«
»Es muss gut sein«, sagte Silas, »einen Platz zu h a ben, wo man hingehört. Ein Zuhause.« Er sagte das ohne jede Sehnsucht, mit einer Stimme, so trocken wie der Wü s tenwind, als stelle er lediglich etwas völlig Unbestreitb a res fest. Mrs Owens bestritt es nicht.
»Glauben Sie, dass wir lange warten müssen?«
»Nicht lange«, antwortete Silas, doch da irrte er sich.
Oben auf dem Platz neben dem Obelisken hatte jeder Friedhofsbewohner seine eigene Meinung und jeder wollte sich Gehör verschaffen. Dass ausgerechnet das Ehepaar Owens und nicht irgendein dahergelaufener Ha l lodri in diese Sache geraten war, bede u tete eine ganze Menge, denn die Owens galten als rechtschaffen und w a ren ang e sehen. Dass Silas angeboten hatte, den Jungen zu beschützen, hatte ebenfalls Gewicht. Die Friedhof s leute betrachteten ihn mit einer gewissen ehrfürchtigen Scheu, denn Silas war Grenzgänger zwischen ihrer T o tenwelt und der Welt, die sie verlassen hatten. Und doch, und doch …
Ein Friedhof ist normalerweise kein demokratisches Gemeinwesen, aber der Tod ist seinem Wesen nach sehr demokratisch, und jeder Tote hatte eine Stimme und auch eine Meinung dazu, ob das lebende Kind bei ihnen ble i ben durfte oder nicht, und jeder wollte sich Gehör ve r schaffen heute Nacht.
Es war Spätherbst und der Tag brach nur zögernd an. Obwohl der Himmel noch dunkel war, drangen die G e räusche der ersten Autos den Hügel herauf, und während die Lebenden im nebligen Morgendunkel zur Arbeit fu h ren, redeten die Friedhofsbewohner immer noch über das Kind, das zu ihnen gekommen war, und darüber, was sie tun sollten. Dreihundert Stimmen, dreihundert Meinu n gen. Nehemiah Trot, der Dichter von der verfallenen nordwestlichen Seite des Friedhofs, hatte gerade in woh l gesetzten Worten seine Ausführungen begonnen, obwohl niemand hätte sagen können, was er eigentlich meinte, da geschah etwas, das alle Anwesenden ve r stummen ließ, etwas, das in der Geschichte des Friedhofs noch nie vo r gekommen war.
Ein riesiges weißes Pferd, das Pferdekenner als Gra u schimmel bezeichnen würden, kam den Hügel herauf. Noch bevor man es sehen konnte, hörte man das Getra p pel der Hufe und das Knacken und R a scheln, als es sich den Weg durch Gebüsch und G e strüpp bahnte, durch den Efeu und den Stechginster, die am Hügel entlangwuc h sen. Groß wie ein Zugpferd war es, mindestens neunzehn Hand hoch. Es hätte einen Ritter in voller Rüstung in die Schlacht tragen können, doch auf seinem bloßen Rücken saß eine ganz in Grau gewandete Frau. Ihr Kleid und ihr Schal schienen aus Spinnweben gemacht zu sein.
Ihr Gesicht war sanft und friedvoll.
Die Friedhofsbewohner kannten sie alle, denn jeder von uns begegnet der Dame auf dem Grauschimmel am Ende seiner Erdentage und sie ist unvergesslich.
Das Pferd blieb neben dem Obelisken stehen. Im O s ten dämmerte es schon und das erste schwache Morge n licht gab den Friedhofsbewohnern ein unbehagliches G e fühl. Am liebsten wären sie in ihre heim i schen Grüfte zurückgekehrt. Dennoch rührte sich keiner von der Ste l le. Alle schauten, aufgeregt und furchtsam zugleich, auf die Dame auf dem Grauschimmel. Die Toten sind normale r weise nicht abe r gläubisch, aber sie beobachteten sie, wie die römischen Auguren den Flug der heiligen Raben b e obac h teten, auf der Suche nach geheimen Zeichen, auf der Suche nach Weisheit.
Und dann sprach sie zu ihnen.
Mit einer Stimme wie
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