Das grobmaschige Netz - Roman
nieder und konnte sich auf ein Vierteljahrhundert ungestörter Gemütsruhe freuen. Für alles, was noch zu erledigen war, Schüleraktionen, Etatüberziehungen oder einzuführende Lehrpläne, konnte immer irgendein Studiendirektor abkommandiert werden. Er selber pflegte den Eichenschreibtisch.
Nach anderthalb Jahrzehnten liebevollen Polierens war nun diese verdammte Geschichte passiert.
Tage waren vergangen. Abende. Fast sogar Nächte, aber es schien nie ein Ende nehmen zu wollen. Jetzt hing dieser rotzige Anwalt im Besuchersessel und erinnerte ihn an einen ausgehungerten Geier, den er einmal in den Sommerferien in der Serengeti gesehen hatte.
Die Einzige, die ich ihn verteidigen lassen würde, dachte Suurna, ist meine Schwiegermutter.
»Sie müssen verstehen, Herr Rütter...«
»Rüger.«
»Verzeihen Sie, Herr Rüger, Sie müssen verstehen, dass es für uns alle eine schwere Zeit war, schwer und anstrengend. Eine Kollegin wurde ermordet, ein Kollege festgenommen. Jeden Tag steht hier die Polizei vor der Tür. Sie sehen sicher ein, dass unsere Schule von weiteren Belästigungen verschont bleiben muss.«
»Natürlich. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen...«
»Ich muss vielleicht nicht extra betonen, dass die Situation
für die Schüler alles andere als förderlich ist: Junge Menschen geraten leicht aus dem Gleichgewicht, Herr Rüger. Wir müssen jetzt wieder zur Ruhe kommen und die Arbeit aufnehmen. Ich trage schließlich die Verantwortung und kann deshalb nicht tatenlos zusehen, wie ...«
Vorsichtig wurde die Tür geöffnet, und eine Frau mit malvenfarbenen Haaren und malvenfarbener Brille steckte den Kopf herein.
»Soll ich den Kaffee bringen, Herr Suurna?«
Ihre Stimme klang sanft, und sie sprach vorsichtig.
Als ob ihre Worte aus Porzellan wären, dachte Rüger. Bestimmt hatte er hier eine abgesprungene Unterstufenlehrerin vor sich.
»Sicher, Frau Bellevue, das wäre nett.«
Rüger beschloss, nicht locker zu lassen.
»Natürlich verstehe ich Ihre Bedenken. Ich habe selber einen Sohn, der vor zehn Jahren hier sein Abitur gemacht hat.«
»Wirklich? Ja, ich habe mich schon gefragt ...«
»Rüger heißt er, Edwin Rüger. Also, ich weiß natürlich, dass es eine schwere Zeit für Sie war, aber wir sollten doch der Gerechtigkeit eine Chance geben, finden Sie nicht, Herr Suurna?«
»Natürlich, Herr Rüger. Sie glauben doch wohl nicht, ich sei auch nur für eine Sekunde anderer Ansicht?«
Er schaute kurz hinter Frau Bellevue her, die soeben das Zimmer verließ. Rüger fragte sich, ob hier wirklich eine leichte Unruhe zu spüren sei oder ob er sich das nur einbilde.
»Im Moment nicht, nein ... Sie bitten nur um ... ein wenig Diskretion. So haben Sie das doch gemeint?«
»Genau. Wenn Sie entschuldigen, dann möchte ich sagen, dass unsere Polizei sich in dieser Angelegenheit nicht von ihrer besten Seite gezeigt hat. Das heißt, ich hoffe, dass sie noch bessere Seiten hat.«
Er lugte über seinen Brillenrand und versuchte es mit einem leicht verschwörerischen Lächeln. Rüger putzte sich die Nase.
»Sie vertreten also ...«, sagte nun der Direktor und ließ drei Stück Zucker in seinen Plastikbecher fallen.
»Ja, ich vertrete Herrn Mitter. Sie müssen doch zugeben, dass es im Interesse der Schule liegt, seine Unschuld zu beweisen?«
Suurna fuhr zusammen.
»Natürlich ... ohne jeglichen Zweifel.«
»Ja?«
»Verstehen Sie das bitte nicht falsch ... aber wie ist denn Ihre Meinung?«
»Eigentlich sollte ich hier die Fragen stellen. Nämlich Ihnen.«
Der Direktor rührte seinen Kaffee um. Zog seinen Schlips gerade. Schaute aus dem Fenster und legte die Kugelschreiber auf der Tischplatte anders hin.
»Herr Mitter war immer ein zuverlässiger Kollege und ein hoch geschätzter Lehrer. Er ist schon fast so lange wie ich an unserer Schule ... ein sehr fähiger Mann ... selbstständig. Ich kann mir kaum vorstellen ... nein, wirklich nicht ...«
»Und Eva Ringmar?«
Langsam näherten sich die Kugelschreiber wieder ihrer Ausgangsposition.
»Ich weiß nicht recht ... sie war ja nicht lange bei uns, zwei Jahre ungefähr ... aber natürlich war sie eine hoch qualifizierte Pädagogin. Darf ich eine Frage stellen ... was sagt Herr Mitter denn selber?«
»Wie meinen Sie das?«
Der Direktor wand sich.
»Ja, wie sieht er den Fall?«
»Nicht schuldig.«
»Ach so... ja, natürlich ... nicht im Affekt oder etwas Ähnliches?«
»Nein. Nichts dergleichen.«
Der Rektor nickte.
»Und Ihre
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