Das grobmaschige Netz - Roman
karge Landschaft ohne Städte, ohne Bäume, ohne Gewässer ... nur ausgedörrter gesprungener Erdboden. Abgesehen von den kleinen grünschwarzen Echsen, die zwischen Steinen und Erdspalten hin und her jagten, war er das einzige Lebewesen in dieser Landschaft. Er war allein und schleppte einen unförmigen Rucksack mit sich herum, der auf seiner Schulter lastete und ihm ins Fleisch schnitt. Er wusste nichts über sein Ziel, wusste nur, dass seine Wanderung wichtig war. Vielleicht hatte er anfangs mehr gewusst, hatte es aber unterwegs vergessen.
Aber er durfte nicht aufgeben, nicht stehen bleiben, sich nicht fallen lassen ... sondern musste sich weiterquälen, Meter für Meter, Schritt für Schritt. Und der Wind wurde immer stärker, er musste sich krümmen; immer stärker wurde der Widerstand, der Wind wehte ihm Sand und trockenes Reisig ins Gesicht, und er bückte sich immer tiefer und kniff die Augen zusammen...
Und dann stand er plötzlich vor dem Haus, einem großen heruntergekommenen Haus, das fremd und vertraut zugleich war. Dort standen lange Reihen von Menschen, die ihn willkommen heißen wollten, sie drückten sich auf dem Korridor an die Wände; alle möglichen Menschen, er kannte sie alle und übersah keinen ... viele Bekannte, Bendiksen und Weiss und sein Sohn Jürg, aber auch andere, Persönlichkeiten aus der großen Welt und aus der Geschichte; der Dalai Lama und Winston Churchill und Michail Gorbatschow. Gorbatschow rezitierte ein lateinisches Gedicht über die Vergänglichkeit aller Dinge und reichte ihm die Hand ... alle reichten ihm die Hand und führten ihn weiter ... weiter, führten ihn behutsam, aber entschieden tiefer ins Haus hinein, die Wendeltreppen hoch und durch lange, schlecht beleuchtete Gänge.
Endlich erreichte er ein Zimmer, das noch dunkler war als alle anderen, und nun wusste er, dass er am Ziel war. Der Mann, der hinter dem niedrigen Tisch saß ... er erkannte den Tisch, es war sein eigener ... und es war sicher ein Mann, es war ... es musste gewesen sein... es war doch...
Die Lampe, die an einer langen Leitung von der Decke herabhing, hatte einen platten Blechschirm, und sie hing so idiotisch weit nach unten, dass er nur die Hände und Unterarme sehen konnte, die auf dem Tisch lagen, aber vielleicht erkannte er sie trotzdem wieder? Es war, es war ... es war?
Und auf dem Tisch lag Evas Kimono; sofort wollte er ihn an sich reißen und in die Waschmaschine stopfen, aber irgendetwas hielt ihn davon ab; er wusste nicht, was, denn der Mann in
der Dunkelheit fürchtete sich noch mehr als er selber; deshalb konnte er sein Gesicht nicht zeigen, es war doch ... und dann verspürte er plötzlich eine starke Unlust, ein Jucken überall und den Drang, aus diesem Zimmer zu stürzen, ehe es zu spät war, und er erwachte.
Er erwachte.
Ja, als er sich nun erinnerte, wusste er, dass kein äußerer Einfluss ihn aus seinem Traum herausgerissen hatte. Das Zimmer selber hatte ihn vertrieben. Sonst nichts.
Er war wach. Unwiderruflich wach. Er atmete schwer, weil Rüger ihm ein Schlafmittel aufgezwungen hatte. Vielleicht hätte er ohne diese Betäubung die Kraft gefunden, sich etwas länger in diesem Zimmer aufzuhalten ... lange genug, um zumindest eine Ahnung zu haben?
Der Kimono auf dem Tisch war nicht nur ein Traum gewesen, das wusste er ... er war eine Erinnerung, ein Fragment aus dieser Nacht ... natürlich war es kein echter Kimono. Es war nur eine Imitation, sie hatte ihn im letzten Sommer in einer Gasse auf Levkäs gesehen, und er hatte ihn für sie gekauft ... an einem der Abende, als sie bis Kneipenschluss vor der Taverne gesessen hatten und danach am Strand entlang nach Hause gewandert waren ... und sie hatten sich in der warmen schwarzen Dunkelheit am Strand geliebt, waren danach nackt weitergegangen, obwohl doch Menschen in der Nähe waren, aber die Dunkelheit war so unglaublich kompakt, dass sie einfach keinen weiteren Schutz gebraucht hatten. Und doch war es sternenklar, ein myriadenreicher Himmel mit Sternschnuppen und Sternschnuppen und Sternschnuppen. Sie hatten aufgehört zu zählen, nachdem sie sich alles gewünscht hatten, was es gab.
Das war ... er rechnete nach ... es war keine drei Monate her. Und doch hätten es auch drei Millionen Jahre sein können. Wie unwiderruflich die Zeit vergeht, wurde ihm erst jetzt bewusst. Es gibt keinen Weg zurück. Levkás wird nie zurückkehren,
nicht der Retsina und nicht der Bettler mit den blauen Augen ... nie
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