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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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sich, er fühlte sich wie auf einem Karussell. Eine neue Welle von Übelkeit überkam ihn. Mit aller Willenskraft kämpfte er sie nieder, doch der folgende Hustenanfall ließ seinen ganzen Körper erbeben.
     
    Ehe er in die Dunkelheit abtauchte, fiel ihm Tanaka ein. Den hatte er damals, als er mit Fischvergiftung und Krämpfen in Armen und Beinen in einem Tokioter Krankenhaus gelegen war, gefragt:
    »Wie elend kann man sich eigentlich fühlen?«
    »Elend wird nach Richter gemessen«, lautete die Antwort.
    »Wovon reden Sie da?«
    »Von Erdbeben. Oder eigentlich davon, wie man Erdbeben und Elend misst. Die Mercalli-Skala endet bei 12. Richter ist prinzipiell nach oben offen. Übelkeit, Elend, Depression – alles Richter. Freude, Lust, Glück – alles Mercalli.«

4
     
    An ihrem zwölften Geburtstag chauffierte Zach die Jungen und Picco aus der Stadt hinaus, die Hügel hinauf und durch die nebeligen Weinberge, wo die Straßen immer schmaler wurden und es im Sommer nach frisch gemähtem Gras roch, während nun im Dezember Schnee auf den Feldern lag. Picco summte zur Melodie von »Everybody Loves A Nut« aus dem Radio.
    Werner schrieb etwas auf einen Zettel aus dem Notizblock, den er immer bei sich trug, und legte ihn Jonas auf den Schoß.
    Siehst du deine Mutter heute noch? stand da.
    Nein , schrieb Jonas zurück.
    Du willst nicht oder sie will nicht?
    Ich will nicht.
    Aha.
    Kommen deine Eltern ? schrieb Jonas.
    Nein.
    Wieso nicht?
    Ich weiß nicht.
    Aha.
    Nach einer halben Stunde gelangten sie zu einem schlossähnlichen Gebäude, das hinter dem Hausberg des Ortes lag und das sie noch nie gesehen hatten. Es lag halb versteckt in einem Wald, trotzdem hatte man von der Lichtung davor einen eindrucksvollen Ausblick auf das Tal unter ihnen. Werner und Mike interessierten sich nicht weiter für die Landschaft, Jonas hingegen stand da und schaute, bis Picco zu ihm trat.
    »Was siehst du da?«
    »So – viel. Viel.«
    »Und was noch?«
    »Immer mehr.«
    »Und was noch?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Jonas, und im selben Moment erschauerte er, »ich weiß aber, dass noch etwas da ist.«
    »Kluger Junge«, sagte Picco. »Vergiss es nie. Und jetzt komm mit.«
    Der Garten des Hauses war nicht besonders ansehnlich. Tote Äste, knorrige Bäume, viel Unkraut, ein kaputter Stacheldraht.
    »Ist nicht ganz fertig geworden«, sagte Picco. »Gruber schafft das nicht allein, da müssen andere her. Wird nach und nach erledigt werden.«
    Als Picco die Tür öffnete, wehte ihnen der süße Geruch von frisch gebackenem Kuchen entgegen. Mächtige Deckenlampen tauchten den Flur in warmes gelbbraunes Licht. Drei hohe Flügeltüren vor ihnen waren verschlossen. Links ging es in eine Art Saal, wo auf einem großen Tisch eine Torte stand, in der brennende Kerzen steckten. Sie mussten gerade erst angezündet worden sein, doch zu sehen war niemand. Mike stürmte vor allen anderen hinein und stieß begeisterte Schreie aus.
    »Das ist euer Geburtstagsgeschenk«, sagte Picco.
    »Was?« fragte Werner und drehte sich einmal im Kreis. »Der Fußball da?«
    »Auch, ja.«
    »Und der Kicker in der Ecke?«
    »Auch.«
    »Und die Torte? Vielen Dank.«
    Picco lachte. »Was ihr hier seht, ist eher ein vorübergehendes Geschenk. Das Geschenk ist das ganze Haus. Dieses Zimmer hier ist nur ein Teil, ein erster Teil des ganzen Geschenks. Im Grunde ist das Haus eine Zeitkapsel, die ich euch schenke.«
    »Was ist eine Zeitkapsel, Boss?« fragte Jonas.
    »Ihr sollt mich nicht so nennen. Ich bin nicht euer Boss.«
    »Wir finden es aber lustig, dich so zu nennen. Also, was ist eine Zeitkapsel?«
    »Etwas, worin man Zeit einschließt.«
    »Und wer hat die Zeit eingeschlossen?«
    »Ich.«
    »Und warum?«
    »Weil es ein Geschenk ist, das auch ich vor sehr langer Zeit von meinem Großvater bekommen habe. Dieses Haus hat ihm gehört, und er hat es mir als Zeitkapsel geschenkt. Jetzt ist es eure.«
    »Wie genau schließt man Zeit ein?« fragte Jonas. »Was ist damit gemeint?«
    »Wollt ihr nicht lieber die Kerzen ausblasen?«
    »Da hat er mal recht«, sagte Werner und ging zum Tisch. »Komm her, oder ich erledige das allein!«
    »Du kannst schon mal vier davon ausblasen«, sagte Jonas ernst nach hinten und wandte sich wieder Picco zu. »Was ist eingeschlossene Zeit?«
    »Ich glaube nicht, dass ich es so erklären kann, dass du es verstehst.«
    »Dann gib dir eben ein bisschen Mühe!«
    Picco lächelte. »Na ja, die Welt dreht sich weiter, Menschen entwickeln sich, Regierungen

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