Das größere Wunder: Roman
zu schwach, um sich wegzurollen. Seine Augen brannten, doch wenn er sie länger geschlossen hielt, strömten Bilder und Gedanken ungehindert auf ihn ein.
Die erste Nacht im Basislager hatte er in einer gnädigen Ohnmacht verbracht, er war in seinen Schlafsack gefallen, und mehr wusste er nicht, Stunden später war er einfach wieder dagewesen, umgeben von Stimmen und fremden Geräuschen, dem Kunststoffgeruch des Zelts und einer Ahnung von Tageslicht, das ins Tal fiel.
Diese zweite Nacht war viel qualvoller. Todmüde und doch weit vom Schlaf entfernt, schüttelte ein Reizhusten seinen Körper, die Kopfschmerzen mahlten, ihm war übel, und ihn suchten Gedanken heim, die er nicht aus seinem Bewusstsein verdrängen konnte. Dabei war es nicht der Charakter der Gedanken, was ihn quälte, sondern schlicht der Dauerzustand des Denkens und Grübelns.
Gesichter. Szenen. Episoden. Ängste. Gedanken. Und Marie. Immer in seinem Kopf, immer, immer, immer, ob er mit jemandem redete oder ob er auf dem Boden lag oder ob er las. Die einzige Flucht: der Schlaf. Der Schlaf aber kam nicht.
Draußen heulte der Wind. Ab und zu hörte Jonas das ferne Grollen abgehender Lawinen. Irgendwo schluchzte eine Frau, in den Zelten ringsum wurde gehustet und gestöhnt, dann und wann tanzte der Lichtkegel einer fremden Taschenlampe über seine Zeltwand. Jonas hatte das Gefühl, dass im ganzen Lager keiner schlief, obwohl es nach zwei Uhr morgens war. Die einen saßen in den Essenszelten und tranken das ungefilterte Chang-Bier, die anderen lagen leidend in ihren Zelten, und manche dachten wohl an das, was gerade auf diesem Berg vorging. An die Menschen, die gestorben waren. An die Menschen, die womöglich gerade in diesen Minuten starben, ohne dass man ihnen helfen konnte. Manch einer dachte vielleicht auch daran, wie es sein würde, wenn er selbst da oben unterwegs war, was auf ihn zukäme, ob er dem, was er für sich heraufbeschworen hatte, auch gewachsen war.
Sollte er ein Schlafmittel nehmen? Wahrscheinlich würde er trotzdem nicht einschlafen und nur noch matter werden. Er kannte das bereits von früheren Besteigungen, er akklimatisierte nur langsam, und in dieser Höhe regenerierte sich der Körper kaum oder gar nicht. Die Wunde etwa, die er sich gestern mit einem Zacken seiner Steigeisen in den Handballen geschlagen hatte, als er seine Ausrüstung kontrollierte, sah nicht viel anders aus als kurz nach dem Missgeschick.
Er setzte den Kopfhörer auf und schaltete den iPod ein. Die ersten Lieder waren sanft und melodisch, und es gelang Jonas, einige Minuten dahinzudämmern.
Maries Stimme riss ihn aus dem Halbschlaf. Er hörte die Worte, die sie neben ihm im Hotelbett auf Ko Phangan geschrieben hatte, und die Melodie, die ihr Tage danach bei einem Ausflug ins Landesinnere eingefallen war, auf der Ladefläche eines holpernden Jeeps, zwischen ihm und einem schwitzenden älteren Amerikaner, der bei jeder Bodenwelle gekreischt hatte.
Jonas schaltete ab und schleuderte die Kopfhörer in die Ecke.
Das Thermometer an der Zeltdecke zeigte minus 10 Grad Celsius. Jonas schlüpfte in seine Hosen und streifte zwei Pullover über. Als er den Reißverschluss am Eingang öffnete und den Kopf aus dem Zelt steckte, rutschte ihm eine Ladung Schnee von oben in den Nacken. Er hatte nicht einmal gemerkt, dass es begonnen hatte zu schneien.
Den Reißverschluss zog er nicht wieder zu. Er stand eine Minute vor dem Zelt und beobachtete, wie der Wind die Schneeflocken durch den Kegel seiner Stirnlampe in das Innere des Zeltes trieb.
Im Essenszelt traf er auf Padang und Ngawang, den Bergsirdar der taiwanesischen Expedition. Bei seinem Anblick lachten sie. Offenbar sah er so aus, wie er sich fühlte.
»Du kannst auch nicht schlafen?« fragte Padang.
»Merkt man das?«
»Du bist schon der Dritte diese Nacht. Willst du Tee?«
»Und eine Kopfschmerztablette. Irgendeine von deinen. Die von Helen wirken einfach nicht.«
Während Padang im Arzneischrank kramte, wurde Jonas von einem Hustenkrampf geschüttelt, der ihn beinahe von seinem Klappstuhl riss. Als er sich gefangen hatte, wischte er sich die Tränen aus den Augen und betrachtete den Bergführer, der mit gekreuzten Beinen bequem auf einer Bank lag, eine Dose Bier in der Hand.
»Und wieso schläfst du nicht?« fragte Jonas. »Musst du morgen nicht früh raus?«
»Nicht so schlimm«, antwortete Ngawang und rülpste. »Ich gehe erst mittags los. Jetzt betrinke ich mich. Solltest du auch tun. Dann weißt du
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