Das größere Wunder: Roman
dafür bezahlt, dass ich euch lebend von hier wegkriege. Wenn der eine oder andere dabei den Gipfel schafft, umso besser. Wenn nicht, ist es keine Katastrophe. 50 000 Dollar sind nicht viel Geld, zumindest für die meisten von euch. Kommt ihr eben nächstes Jahr wieder.«
Er lachte, und ehe Tiago etwas einwerfen konnte, fügte er hinzu: »Für diejenigen unter euch, die ihn nicht verstanden haben, das war ein Witz. Wobei es niemandem schaden könnte, sich zu überlegen, was das Geld, das jeder von euch in diese Expedition gesteckt hat, hier vor Ort bedeuten würde. Damit baut man hier eine ganze Schule.«
Hadan ging zu den Getränkekisten und nahm sich eine Dose Bier. Ein Flüstern ging durch das Zelt, abgelöst durch eine Kakofonie von Schnauben und Husten.
»Ein wenig dick trägt er auf, wie üblich«, raunte Sam, »doch er hat nicht unrecht. Übrigens, guck dir mal die Fingernägel der Tante da vorne an. Jeder Nagel eine andere Farbe. Investmentbankerin. Ganz nett. Hat eine Schraube locker.«
»So, Leute!« rief Hadan. »Ehe die Männer anfangen, sich sinnlos zu betrinken und den letzten Rest ihrer Würde zu verlieren, noch ein kurzer Abriss der kommenden Wochen. Wir akklimatisieren uns eine Weile im Basislager, schließlich unternehmen wir einen Tagesausflug durch den Khumbu hoch zu Lager 1. Da bleiben wir nicht, sondern marschieren wieder runter. Ein paar Tage später dasselbe noch mal, aber da übernachten wir oben. Mit dieser Taktik arbeiten wir uns allmählich von Lager zu Lager den Berg hinauf. Anders kriegen wir die Sauerstoffsättigung eures Blutes nicht dahin, wo sie sein muss. Der Rest, und das ist mein Schlusswort, hängt in hohem Maße von eurer eigenen Leidensfähigkeit ab. Prost!«
Er nahm einen Schluck Bier, dann bat er Ang Babu, der unter den Sherpas die Leitung am Berg innehatte, mit ihm zu kommen, um ein paar Dinge zu besprechen. Applaus begleitete seinen Abgang. Er schaute noch einmal ins Zelt.
»Lasst das bitte, wir sind nicht im Theater!«
»Übrigens«, sagte Sam, »die Bankerin war vor vier Jahren mit mir am Elbrus, da hieß sie noch Andrew.«
»Im Ernst?«
»Mein voller Ernst. Der Typ da drüben heißt Charlie, verkauft Autos und bohrt gern in der Nase. Die da ist Eva, sie weiß, dass sie gut aussieht und freut sich sehr darüber, in ihrem komischen Videoblog dreht sich eigentlich alles nur um sie. Der dort hat einen unaussprechlichen Namen und ist schon mit einem Hirnschaden hergekommen, wenn du mich fragst, denn sieh dir mal an, wie der zuckt! Da! Schau mal! So geht das die ganze Zeit! Und die da vorne heißt Sarah, eine deutsche Studentin, die die Expedition angeblich von ihrem Freund geschenkt bekommen hat.«
»Das muss eine tolle Beziehung sein.«
»Wahrscheinlich hat er sie gut versichert.«
Jonas saß eine Weile da und fragte sich, was im Moment überwog, der Kopfschmerz oder die Übelkeit. Gern hätte er sich unter die Teammitglieder gemischt, um zu hören, wie Hadans Auftritt angekommen war, doch er war schon kaum fähig gewesen, sich auf die Ansprache zu konzentrieren, und sein einziges Ziel war sein Zelt.
»War der wirklich schon mal selbst da oben?« hörte er beim Vorbeigehen Tiago fragen.
»Dreimal«, sagte Hank. »Der weiß, wovon er redet.«
»Er macht es sich viel zu einfach. Er ist nicht nur dafür bezahlt worden, mich heil wieder nach Hause zu bringen, sondern vor allem rauf!«
»Wie soll das funktionieren? Rauflaufen musst du schon selbst.«
»Das werde ich auch, darauf kannst du dich verlassen. Auch wenn ich jetzt kotzen gehe. Und die Schule für die armen Sherpakinder, weißt du, wohin der sich seine …«
Die Frau, mit der er zuvor Blickkontakt gehabt hatte, stellte sich Jonas in den Weg.
»Haben wir uns schon begrüßt?« Sie streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Eva. Blick und Fänge. Der Blog. Schon gelesen? Hab mich in der Rundmail vorgestellt.«
»Tut mir leid, ich muss mich dringend hinlegen.«
»Gute Besserung, aber könnte ich vorher noch ein Interview für meinen Blog haben? Die Zeitung, die meine Reise mitfinanziert hat, will tägliche Berichte, und ich möchte Stimmen anderer Bergsteiger einfangen.«
»Jetzt ganz bestimmt nicht. Später auch nicht. Am besten nie.«
Schwer durch den offenen Mund atmend, stolperte er aus dem Zelt.
Die Kälte draußen erfrischte ihn so weit, dass er den Weg ohne Haltepausen bewältigte, doch nachdem er den Reißverschluss am Eingang hinter sich zugezogen hatte, brach er zusammen. Alles um ihn drehte
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