Das größere Wunder: Roman
konnte.
3
Jonas war so zerschlagen, dass er für die dreißig Meter zum Essenszelt zehn Minuten benötigte. Dort ließ er sich neben Sam auf eine Bank fallen, einem der Bergsteiger aus seinem Team, den er bereits in Kathmandu kennengelernt hatte. Der saß mit hängenden Schultern da und konnte nur noch flüstern.
»Stimme total weg«, krächzte er. »So was wie das hier habe ich selten erlebt. Ich bin kein Jammerer, ich habe Möbel in achtstöckigen Häusern ohne Lift hochgeschleppt, aber so was wie das hier habe ich noch nicht erlebt.«
»Du hörst dich an wie einer, der nachts fremde Frauen am Telefon belästigt«, sagte Jonas und nahm den Tee entgegen, den ihm Padangs Bruder Pemba reichte.
»Diese Kälte! Diese Kopfschmerzen! Diese Übelkeit! Die verdammte Verdauung, man weiß gar nicht, wieso man vom Scheißhaus überhaupt noch runter soll!«
Er sprach in so aufgesetzt gequältem Ton, dass Pemba laut lachte und die anderen Sherpas ringsum ansteckte, die, mit verschiedenen Verrichtungen beschäftigt, auf Hadans Erscheinen warteten.
Jonas trank den Tee in kleinen Schlucken und bemühte sich, ihn nicht gleich wieder von sich zu geben. Als der Expeditionsleiter, ein vollbärtiger Kerl von stattlicher Körpergröße und mit einer riesenhaften Nase, nach einigen Minuten das Zelt betrat, war seiner Miene abzulesen, dass Ärger in der Luft lag.
»Leute, seid mal einen Moment still! Ja, auch du da hinten, Hank! Ennio und Carla schweigen ebenfalls, sonst mache ich Ernst und sie dürfen dieses Jahr ihre Sauerstoffflaschen tatsächlich selber rauftragen. Habe ich eure Aufmerksamkeit? Das freut mich.
Meine Freunde, ungeachtet dessen, was sich heute im Eisbruch abgespielt hat – hier am Berg muss man an sich selbst denken, und so gesehen war das kein schlechter Tag für unser Team. Wir schauen nach vorne. Ich begrüße diejenigen von uns, die heute mit dem letzten Schwung angekommen sind, ich habe gehört, in Lobuche hat es euch nicht so gefallen? Da seid ihr aber nicht die ersten.«
Schwaches Gelächter machte die Runde, einige husteten. Hadan streckte einen Finger hoch, und es wurde wieder leise.
»Das Unglück der Sherpas im Eisbruch ist natürlich eine große Katastrophe. Wer möchte, kann nachher zur Gedenkfeier gehen, die später ein Stück weiter talwärts stattfinden wird.«
Er raschelte geräuschvoll mit den Papieren, die er in den Händen drehte, und schaute zu Boden.
»Was ist mit den Franzosen?« rief der Mann, den Hadan Hank genannt hatte.
»Die würde ich noch nicht abschreiben, ich kenne ihren Bergführer, und wo der ist, geht das Licht zuletzt aus. Ach ja, und aus Lukhla hört man, das Flugzeug sei vielleicht gar nicht in Kathmandu gestartet. Warten wir also mal ab.«
Im Zelt hob Gemurmel an. Jemand unternahm den vergeblichen Versuch, allgemeinen Applaus zu entfachen.
»Probleme haben wir, wie ihr wisst, mit den Sherpas. Nicht mit unseren Jungs hier, ihr seid wundervoll, und an dieser Stelle möchte ich euch einmal gesonderten Dank aussprechen dafür, dass ihr mit uns klettert. Ohne euch würde keiner von uns den Gipfel, ja nicht einmal eines der Hochlager zu Gesicht bekommen. Liebe Leute, seid euch dessen bewusst, dass diese kleinen zähen Burschen die Höhe von Geburt an hundertmal besser vertragen als ihr, und begegnet ihnen mit dem Respekt, den sie verdienen.«
Nun applaudierte das ganze Zelt, ein schriller Pfiff ertönte, da und dort wurden die Namen einzelner Sherpas gerufen, die verlegen lachten.
»Das Problem liegt woanders«, setzte Hadan fort. »Wegen der Sonnenfinsternis ist es schwierig, in diesem Jahr die besten Hochträger an den Berg zu bekommen. Einige von ihnen halten sie für ein böses Omen und lassen diese Saison lieber aus, obwohl sie das Geld dringend nötig hätten. Unfälle wie der heute im Eisbruch sind deshalb doppelt schlimm.«
»Wann findet diese Sonnenfinsternis eigentlich statt?« rief eine Frau mit langen blonden Locken.
»Ziemlich genau in sechs Wochen«, beschied ihr jemand von hinten.
»Und was genau mögen die Sherpas daran nicht?«
»Es ist ihnen zu dunkel«, sagte der Mann neben ihr.
»Und was ist nach dieser Sonnenfinsternis«, rief die Frau, »können sie nicht wenigstens dann an den Berg kommen?«
»Das ist Anne«, flüsterte Sam Jonas zu, »Tierpflegerin aus irgendeinem Kaff in Texas. Habe sie und ihren Verlobten, den schleimigen Kerl neben ihr, vor ein paar Jahren an der Ama Dablam kennengelernt. Er kommt aus Portugal, einem Land mit großer
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