Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
Vom Netzwerk:
bastelte und ihnen Schießen beibrachte. Sie lernten Menschen kennen, mit denen sie eine halbe Nacht feierten und lachten und die am nächsten Morgen verschwanden, als hätten sie nur in einem Traum existiert.
    Ein Abend am Feuer bei Marshmallows, Saxofonspiel, Gesängen und Gelächter, das Beobachten verliebter Paare in den Schlafsäcken, ein paar Meter abgerückt von den anderen, die Geräusche aus den Wäldern, die gedämpften Stimmen, sehr spät glücklicher, geborgener Schlaf. Und am nächsten Tag: grelle Sonne, müde Gesichter, ein Händedruck, ein Winken, ein Abschied auf Nimmerwiedersehen. Hunderte Male sah Jonas Autos hinterher, erblickte einen Haarschopf ein letztes Mal, ehe der Wagen um die Ecke bog, und dachte daran, dass er gerade einem Sterben beiwohnte. Nie wieder werde ich diesen Menschen sehen, seine Stimme hören, seine Hand mit dem Leberfleck betrachten, die Narbe über dem Knie.
     
    Jonas fragte niemals, wohin es ging, nur eine Sache wollte er unbedingt wissen.
    »Zach, sehen wir den Grand Canyon?«
    »Das wird sich nicht ausgehen, mein Freund.«
    Es war eine Reise ohne Ziel, ohne Plan, zwei Tage an diesem Campingplatz, eine Nacht an jenem Parkplatz, eine in einem Feldweg, ein Tag Umherstreifen durch eine unbekannte Kleinstadt, ein Tag Baden und Faulenzen an einem See. Regina holte manchmal anstatt zu kochen Burger und Fried Chicken, Mrs. Hunt ermahnte Werner und Jonas, untereinander Englisch zu sprechen, was sie ignorierten, und Zach veranstaltete mit ihnen Zielübungen in Wäldern, in denen ihnen die Gräser bis zu den Hüften reichten und Moskitos in riesigen Schwärmen über ihren Köpfen schwirrten. Er brachte ihnen nicht nur Bogenschießen bei, sondern auch Messerwerfen. Er zeigte ihnen, wie man sich im Wald einen Unterschlupf baute, wie man mithilfe eines Steines und einer Jacke Wasser gewann, wie man Pfeifen schnitzte und wie man aus größerer Höhe stürzte, ohne sich zu verletzen.
    Regina gingen ihre Ausflüge auf die Nerven, zumal die Jungen oft ziemlich lädiert zurückkehrten. Sie versuchte gegenzusteuern, indem sie sie zu einem täglichen Grundkurs im Kochen verpflichtete. Mit achtzehn sollten sie in der Lage sein, allein zu wohnen und für sich zu sorgen, ohne auf die Hilfe einer Frau angewiesen zu sein.
    »Regina, du kannst selbst nicht kochen«, sagte Werner.
    »Ein Mann, der nicht für sich selbst sorgen und Wäsche waschen kann, ist ein Behinderter«, beharrte sie.
    »All men are utterly useless«, sagte Mrs. Hunt.
    »Shut up«, sagte Zach.
     
    An einem stillen Nachmittag in einer namenlosen Kleinstadt war Werner mit Zach einkaufen gegangen, Mrs. Hunt suchte wegen ihrer Migräne eine Apotheke, und Regina füllte das Wohnmobil mit ihrem Schnarchen, während Jonas auf der Veranda eines Diners saß und durchs Fenster einen Anstreicher beobachtete, der im Inneren des Lokals die Wände ausmalte und dabei geschickt wie ein Artist mit der Leiter zwischen den Beinen durch den Raum stelzte. Es sah ungeheuer schwierig und gefährlich und zugleich sagenhaft leicht aus. Dieser Mann machte seine Arbeit seit Jahrzehnten, er erledigte sie flott und elegant und hatte dabei Zeit, mit den Kellnerinnen zu flirten und seinem Gehilfen Witze zu erzählen. Es war ein Genuss, ihm zuzusehen, ein Anblick größter Harmonie und Stimmigkeit. Jonas verliebte sich auf der Stelle in diese Harmonie.
    Er sah zu. Eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, eine ganze. Dann fragte er den Anstreicher, ob er es auch einmal probieren dürfe. Dieser schaute skeptisch, doch die kichernden Kellnerinnen legten sich für Jonas ins Zeug, und so kletterte der Anstreicher von der Leiter und machte eine einladende Handbewegung.
    Die nächsten Tage saß Jonas mit einer Platzwunde, die ein verschlafener und hustender Assistenzarzt genäht hatte, hinten am Tisch und las ein Buch nach dem anderen, um sich nicht anhören zu müssen, was Zach zu Kunststücken mit Malerleitern einfiel. Während er schlief, kritzelte ihm Werner obszöne Sprüche auf den Kopfverband. Zach fügte eine surrealistische Zeichnung von Regina hinzu.
     
    »Sag mal, glaubst du, die haben noch Sex?« fragte Werner Jonas unvermittelt, als sie zu zweit durch den Wald hinter ihrem Campingplatz streiften.
    »Wer? Regina und Zach? Miteinander?«
    »Heiliger Gott«, sagte Werner.
    »Na was meinst du?«
    »Ich will bloß wissen, ob du glaubst, dass die es noch machen. Mit wem auch immer. In dem Alter.«
    »Woher soll denn ich …«
    »Die ist siebzig! Und er? Über

Weitere Kostenlose Bücher