Das größere Wunder: Roman
kümmerten und denen Jonas vertraute. Besonders Lisa mochte Mike sehr, er ließ sich von ihr zu Bett bringen und Geschichten erzählen, während Sascha ihn in die Schule begleitete, die Picco für ihn gefunden hatte.
Jonas und Werner wurden nur selten in Luxushotels einquartiert, vielmehr lernten sie in jenen Jahren Unterkünfte jeder Art kennen. Sie übernachteten in ungarischen Kaderhotels, englischen Landhäusern, westdeutschen Pensionen, Schweizer Almhütten, auf jugoslawischen Campingplätzen und in Touristenburgen an der italienischen Adria, wo sie Menschen trafen, mit denen sie sonst selten in Berührung kamen, jedenfalls seltener als andere Kinder ihres Alters: mit Mechanikern, Hilfsarbeitern, Friseurinnen, Vertretern, Sekretärinnen oder Polizisten. Sie spielten mit deren Kindern, verliebten sich in kleine Zürcherinnen und Hamburgerinnen, zettelten Fehden mit den Stuttgartern an, begründeten Freundschaften mit Kindern aus Holland, Skandinavien und Italien. Sie sahen die Akropolis und das Manneken Pis, die Rialtobrücke und den Eiffelturm, den Vatikan und Big Ben. Sie fuhren mit dem Auto nach Frankreich, mit dem Bus nach Spanien, mit der Bahn in die Türkei.
Die erste große Reise machten sie mit dreizehn. In der Abflughalle des Flughafens drückte Picco jedem ein Kuvert mit Bargeld in die Hand und umarmte sie.
»Wohin geht es?«
»Werdet ihr schon sehen.«
Von dieser Regel gab es keine Ausnahme. Die Jungen wussten bei Reiseantritt nie, was ihr endgültiges Ziel war. Irgendwann stellten sie ihre Taschen vor einem Haus, einem Hotel oder einem verfallenen Campingplatz ab und erfuhren, dass sie dort eine oder zwei Wochen bleiben würden.
»Am Gate sehe ich ohnedies, wohin das Flugzeug fliegt«, sagte Werner.
»Na dann ist ja alles in bester Ordnung.«
»Komm schon. Sag es uns!«
»Niemals«, sagte Picco.
»Bitte!«
»Keine Chance«, sagte Picco.
»Ausnahmsweise!«
»Shut up« sagte Mrs. Hunt.
Das Flugzeug, in dem außer ihrer Englischlehrerin noch Zach und Regina saßen, flog nach New York.
Zum ersten Mal bedauerte Jonas, dass er nicht früher gewusst hatte, wohin die Reise ging, denn von New York hatte er seit Jahren geträumt, es war die Stadt, die er sich als die prächtigste und wichtigste vorstellte, die Stadt mit dem World Trade Center und dem Empire State Building, die Stadt der Gangster und des Broadways, die Stadt, in der John Lennon erschossen worden war, ein paar Jahre zuvor, und Jonas hätte sein Wissen gern aufgefrischt, ehe er sie besuchte. Auch wenn er bezweifelte, dass sie länger in New York bleiben würden.
Während des Fluges hatte er genügend Zeit, ungestört über New York und Amerika nachzudenken, denn nach einem Lebensmittelwurf gegen einen Mitreisenden sowie einem Zwischenfall mit dem Servierwagen wurden Werner und Jonas auseinandergesetzt.
Jonas schaute in der letzten Reihe aus dem Fenster, sah unter sich einen endlosen Wolkenteppich, hörte das laute, gleichförmige Brummen der Turbinen und wusste, dass in dieser Stunde etwas für ihn begann. So hatte er es später auch Marie erzählt.
»Dieser Flug war es«, sagte er, in ihrem Hotel in Abuja eine Stunde vor der Sonnenfinsternis, umgeben von schläfrigen schwarzen Sicherheitsleuten mit funkelnden Kalaschnikows, »seit damals bin ich, was ich bin.«
Jonas behielt recht. Nach einer Nacht in einem Hotel, in dem sie wegen des Jetlags und der Aufregung keine Sekunde schliefen, mietete Zach ein Wohnmobil, und sie verließen New York noch am selben Tag.
»Wohin fahren wir?« fragte Werner.
»Shut up«, sagte Mrs. Hunt.
»Wir könnten würfeln«, sagte Zach.
In den Wochen darauf hörten sie auf ihrem Weg durch den Nordosten der USA und Teilen Kanadas tagaus, tagein Zachs Country-Musikkassetten, die spotzende Klimaanlage, das gleichmäßige Schnarren des Motors und das Röhren des Auspuffs, der nach einer Woche abbrach, was ihnen einen Tag in einer Werkstatt eintrug. Sie standen vor den Niagarafällen und waren fasziniert von der Vorstellung, dass es Menschen gab, die sich in ein Fass einsperren und hinabtreiben ließen. Sie fotografierten sich gegenseitig auf der Grenzbrücke, mit einem Fuß in Kanada, mit dem zweiten in den USA. Sie renkten sich vor dem Weißen Haus die Hälse aus, um den Präsidenten zu erspähen, sie angelten bei warmem Regen im Ontariosee, sie fuhren mit dem Wohnmobil durch Mammutbäume hindurch, die mehr als hundert Meter hoch waren und in deren Wäldern Zach mit ihnen Pfeile und Bogen
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