Das größere Wunder: Roman
du nicht, wo wir sind?«
»Doch, aber welche Höhe?«
»Denk nicht darüber nach. Nur Gehen. Geh einfach. Denken kostet Kraft.«
Nach ein paar Minuten kehrte wieder Leben in Jonas’ Wahrnehmung zurück. Er verstand, dass er eine Weile ohne Sauerstoff geklettert war und ihm der Sauerstoffmangel die Sinne getrübt hatte.
»Kommst du ohne Sauerstoff aus?« fragte er den Sherpa.
»Wir kriegen bald neue Flaschen. Ich habe deine Durchflussrate noch einmal erhöht. Denk nicht nach. Nur gehen.«
Gehen.
Gehen.
Husten. Schmerzen. Sich krümmen und keine Luft kriegen. Das Ende nahe fühlen.
Gehen.
»Wir kommen an einen Grat«, sagte Gyalzen. »Er ist gefährlich. Verstehst du?«
»Klar verstehe ich.«
»Hier holen wir uns neue Flaschen. Das mache ich. Du trinkst.«
Gyalzen drückte ihm die Verschlusskappe einer Thermoskanne, die mit Tee gefüllt war, in die Hand. Jonas trank, wobei er das Gefühl hatte, sich siedendes Öl in seine wunde Kehle zu gießen. Als er nach unten in den Hang schaute, den sie gerade hinter sich gelassen hatten, fragte er sich, wie er es je wieder da runterschaffen sollte. Eine endlose Reihe von Bergsteigern näherte sich dem Grat.
»Wir sollten uns beeilen«, sagte er keuchend. Und als er wieder atmen konnte: »Ehe die uns überholen.«
»Das ist auch schon egal. Vor uns sind andere Teams, zu denen wir bald aufschließen werden. Ganz ruhig. Du bist toll. Du schaffst es.«
Während der Sherpa die Sauerstoffflaschen austauschte, betrachtete Jonas die Bergketten vor sich. Der Anblick war so überwältigend, dass er wegsehen musste. Er durfte sich nicht bewusst machen, dass er in dieser Sekunde hier stand, er musste den Moment in sich speichern und später abrufen, sonst würde wer weiß was passieren.
»Gyalzen, die anderen? Weißt du etwas?«
»Probleme.«
»Was für Probleme?«
»Nicht denken. Gehen.«
»Wo sind die anderen?«
»Im Stau, die meisten weit unter uns. Angeblich kommt schlechtes Wetter.
»Schlechtes Wetter?«
»Ja.«
»Und wieso kehren wir dann nicht um?«
»Weil unten das schlechte Wetter ist. Es wird sich aber verziehen.«
Jonas’ Gehirn war nicht mehr in der Lage, so komplexe Informationen zu verarbeiten. Er verstand nicht, was der Sherpa ihm sagte und was das bedeutete.
»Woher weißt du das?«
»Jonas, willst du lieber hier warten oder weitergehen?«
»Weiter.«
»Dann gehen wir!«
Jonas dachte an seine Kamera, die hinten in seinem Rucksack steckte und mit der er dieses Panorama hätte festhalten können, um später zu verstehen, wo er gewesen war und was dies für ihn bedeutete, doch Gyalzen war bereits ein paar Meter voraus.
Unten gab es Probleme?
Welche Probleme?
Gehen.
Gehen.
Husten. Kälte. Wind.
Er musste lachen. Es war so sinnlos.
Der Wind wurde stärker, doch sie gingen. Jede Stelle, an die sie kamen, erreichte sein Bewusstsein, wenn überhaupt, erst Minuten oder gar Stunden später, als ob nicht er selbst unterwegs war, sondern für ihn gegangen wurde, von seinem Körper oder einem zweiten Ich. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren, es war, als bewegte er sich mit Bleigewichten beschwert in einem Taucheranzug am Grund der Tiefsee. Er erinnerte sich an einen verschneiten, überwächteten Grat, einen langen Grat ohne Verfixung, an dem ein falscher Schritt genügt hätte, um überhaupt keine Erinnerung mehr zu haben, und an das kombinierte Gelände, das darauf gefolgt war. Er wusste noch jedes Details von dem, was Marc ihm über den Aufstieg und speziell über den Balkon gesagt hatte, aber entweder war sein Verstand an dieser Stelle abgeschaltet gewesen, oder der Balkon lag noch vor ihnen.
Die Gruppe, die sich direkt vor ihnen den Berg hinaufkämpfte und ihnen kostbare Zeit raubte, erwies sich als das Team der Belgier. Wegen der Masken erkannte Jonas keinen von ihnen, doch dann fiel ihm der Pferdeschwanz auf.
»Michel?« rief er. »Bist das du, Michel?«
»Wir gehen für Jean!« brüllte der Belgier.
»Michel! Lasst uns vorbei! Wir sind schneller als ihr!«
»Wir gehen für Jean!« brüllte Michel wieder und machte keinerlei Anstalten, in irgendeiner Weise auf die Bitte zu reagieren.
»Du wolltest es mir ja nicht glauben«, sagte Gyalzen. »Hier lässt dich niemand vorbei.«
Ans Fixseil gehängt, beobachteten sie die Belgier, die sich aufwärts mühten. Wie erschöpft die meisten von ihnen waren und mit welch dilettantischer Technik sie ans Werk gingen, war offensichtlich. Jonas war besorgt, auch um seiner selbst
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