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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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zwar so, als hätte es die Tiefen davor und danach nie gegeben, weißt du das? Ich spreche da auch und gerade von moralischen Leistungen. Wir guten Menschen, wir.
    Ja, Jonas.
     
    Die wirklich Verurteilten dieser Welt sind die, die sich an den paradiesischen Urzustand vor ihrer Geburt erinnern können, weil nichts, was sie in dieser Welt erleben werden, an das heranreicht. Weißt du das?
    Ja, Jonas.
     
    Da unten ist die Decke meines Zelts. Sie sieht gerade niemanden unter sich. Aber bald wird sie mich sehen und ich werde sie sehen und alles wird gut sein alles.
     
    »Jonas, bitte kommen!«
    »Hadan?«
    »Bist du da, Jonas?«
    »Bin ich.«
    »Was machst du?«
    »Ich gehe von diesem Berg runter, das mache ich.«
    Im Funkgerät war ein Stimmengewirr zu hören, offenbar brüllten mehrere Menschen gleichzeitig ihre Freudenschreie in den Apparat.
    »Jonas, hier will dich jemand sprechen.«
    »Sag Marc, wir sehen uns in Kathmandu. Hab jetzt keine Luft für ihn.«
    »Ich heiße nicht Marc«, sagte Marie.
    Jonas blieb stehen, ging weiter, blieb stehen, ging weiter, blieb stehen, ging weiter, blieb stehen oder ging weiter, er wusste es nicht.
    »Wo bist du?« fragte er.
    »Na hier!«
    »Hier? Kathmandu?«
    »In eurem Messezelt!«
    »Bitte was?«
    »Hast du meinen Brief nicht gelesen?«
    »Ach, der Brief …«
    »Jonas, komm da bitte sofort runter!«
    »Ja. Mach ich. Bin auf dem Weg.«
    »Du versprichst es mir? Ich warte hier auf dich.«
    »Ich verspreche es.«
    »Du bleibst nicht stehen, bis du im Lager bist?«
    »Nein, ich bleibe garantiert nicht mehr stehen.«
    »Es sind Menschen zu dir unterwegs, Jonas, die werden dir helfen!«
    »Ich bin unterwegs nach unten, und ich bleibe nicht mehr stehen, ich falle nicht mehr um und ich schlafe nicht mehr ein. Keine Ahnung, wieso, aber es geht mir im Augenblick ganz gut.«
    »Das will ich hoffen«, sagte sie, »denn ich hatte es dir ja auch geschrieben.«
    »Was hattest du mir geschrieben?«
    »Dass du dich nicht umbringen darfst, wenn ich dabei bin!« schrie sie.
    Er musste aufpassen, die Schritte richtig zu setzen. Er konnte sich kaum noch auf den Weg konzentrieren. Er fürchtete, wieder zu halluzinieren, doch es fiel ihm keine Möglichkeit ein, herauszufinden, ob dies die Wirklichkeit war oder nicht. Er war sich allerdings relativ sicher.
    »Wie war die Sonnenfinsternis?« fragte er. »Die war doch schon, oder?«
    »Die habe ich verpasst, weil ich bei einer Gebetszeremonie war. Wegen der war ich aber auch nicht hergekommen.«
    »Schluss jetzt«, hörte er Hadans Stimme. »Wo bist du im Augenblick?«
    »Kann’s nicht sagen. Kann auch nicht mehr reden. Komme runter.«
    »Konzentrier dich. Geh weiter. Geh einfach weiter. Bald sind Sven und Alex bei dir.«
    Eine Nacht schutzlos in der Todeszone überleben und dann vor Aufregung an einem Herzinfarkt sterben, das würde er sich nie verzeihen.
    Knapp dran war er.
     
    Jetzt wieder: Nicht denken.
    Nicht denken.
    Nicht denken.
    Nicht denken.
    Auf den Weg achten. Auf die Gletscherspalten aufpassen. Den Schmerz wegschieben. Nicht an unten denken.
    Kein Hatta.
     
    Als er Gestalten vor sich auftauchen sah, hielt er sie zunächst für Einbildung, doch die Gestalten sprachen, sie umarmten ihn, sie jagten ihm eine Injektion durch die Hose in den Hintern, sie nahmen ihn ans Kurzseil und wirkten alles in allem ziemlich real.

61
     
    An den Abstieg hatte Jonas wenig Erinnerung. Er wurde versorgt, aber er hatte keine Ahnung, in welchen Lagern und von wem. Er wusste, dass es in Lager 2 oder 3 gewesen sein musste, wo ihn mehrere Männer und Frauen splitternackt ausgezogen und auf eine Art medizinische Matratze gebettet hatten. Er bekam Infusionen, man legte seine Hände und Füße in ein warmes Wasserbad, und ehe sie verbunden wurden, prophezeite ihm ein Arzt, er würde an jedem Fuß zwei Zehen verlieren und zwei oder drei Finger der linken Hand, möglicherweise aber keinen der rechten, was nur eines der vielen Wunder war, die Jonas erlebt hatte. Seine Nase sah auch nicht gut aus, erfuhr er, aber das alles kümmerte ihn wenig, er nahm all diese Informationen auf, als beträfen sie einen anderen. Er war noch nicht imstande, sich mit dem zu beschäftigen, was geschehen war.
    Er schlief irgendwo, bewacht von Nina. Er aß eine ganze Packung Butter, so sehr verlangte sein Körper nach Fett. Er wurde erneut untersucht und den Berg hinuntergeschleift.
    Woher die Traurigkeit in ihm rührte, dieser Druck tief in seiner Brust, verstand er nicht. Erst am

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