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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Lieben und verzeihen und großherzig sein und sich in fremde Arme fallen lassen zu können und zu sagen: Ja. Ja. Ja.
     
    Die Geometrie der Äcker, die an einem Zugfenster vorbeifliegen
    Die Menschen, die in diesen Häusern wohnen
    All die Menschen
    So viele Menschen
    Und eine

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    Die Stimme, die seinen Namen rief, war ihm vertraut. Er entschied sich, zuzuhören.
    »Jonas! Jonas, melde dich endlich! Jonas, bitte kommen!«
    Was immer da von ihm verlangt wurde, er konnte es nicht erfüllen.
    »Jonas, bitte kommen!«
    Nein.
    »Jonas, bitte kommen!«
    Nein!
    »Jonas, bist du da?«
    Ja.
    »Jonas, bist du da?«
    Nein!
    »Jonas, bitte kommen!«
    Ach Gott.
    »Jonas, bitte kommen!«
    »Jonas, bitte kommen!«
    »Jonas, bitte kommen!«
    »Jonas, bitte kommen!«
    »Jonas, bitte kommen!«
    Wie konnte man nur so lästig sein? Das ging ja durch Mark und Bein. Er wollte doch bloß seine Ruhe haben.
    »Jonas, bitte kommen!«
    »Jonas, bitte kommen!«
    »Jonas, bitte kommen!«
    »Ja?«
    »Da haben wir dich ja wieder! Bleib bei mir, Jonas, bleib bei mir! Hör mir zu! Hier ist jemand, der mit dir reden will.«
    »Ja.«
    »Hallo Jonas, hier ist Marc!«
    Es war, als würde ein klein wenig Licht in Jonas’ Verstand fallen.
    »Marc?«
    »Ich will, dass du da sofort runterkommst, Jonas!«
    »Marc?«
    »Ich bin’s, Marc! Ich bin im Krankenhaus in Kathmandu. Ich telefoniere über Satellitentelefon mit Hadan im Basislager, und der schaltet mich zu dir. Wie geht es dir?«
    »Gut.«
    »Dann komm sofort da runter!«
    »Ja.«
    »Stehst du? Gehst du?«
    »Nein.«
    »Was tust du?«
    Sprechen machte so müde.
    »Was tust du, Jonas?«
    Antworten wurden heillos überschätzt. Machen? Jonas? Du? Ich?
    »Jonas! Was du tust, habe ich gefragt!«
    »Rasten.«
    »Jonas, das ist deine allerletzte Rast! Die Lichter gehen aus! Willst du das wirklich?«
    »Lichter?«
    »Ja, die Lichter gehen aus, verdammt! Wenn du das nicht willst, steh auf und kämpf dich da runter!«
    »Ja.«
    »Wo bist du? Sag mir, wo du bist!«
    »Ja.«
     
    Es war so anstrengend, das Funkgerät zu halten. Aber es war ein komisches Funkgerät. Jetzt schluchzte jemand darin. Er legte es weg, nur kurz. Nur kurz! Er durfte nicht einschlafen. Was erledigen. Hier. Er musste noch etwas
     
    Ist doch eine prächtige Aussicht, Jungchen. Schönes Licht. Viel Sonne. Ich war mal Fotograf.
    Was wissen denn Sie bitte von der Sonne?
    Na, sie scheint uns an. Da oben.
    Sie wissen überhaupt nichts. Aber über die Sonne sollte man alles wissen, denn ohne sie gibt es kein Leben.
    Na ja. Leben.
    Die Sonne ist 150 Millionen Kilometer entfernt, der Mond 380 000 Kilometer. Das war nicht immer so. Vor vier Milliarden Jahren umkreiste uns der Mond in einer Entfernung von nur 25 000 Kilometern und strahlte zwanzigmal heller. Können Sie sich diese Gezeitenkräfte vorstellen? Ich muss oft daran denken, was wohl wäre, wenn er plötzlich, nur für eine Nacht, wieder an uns heranrücken würde, um uns zu grüßen. Städte versänken im Wasser.
    Genieß doch einfach die Aussicht, Junge.
    Damals, als er uns so nah war, drehte sich die Erde viel schneller um die eigene Achse. Der Tag dauerte nur sechs Stunden. Die Gezeitenbremse hat die Geschwindigkeit verringert, nun dauert der Tag 24 Stunden, aber das ist nicht von heute auf morgen ist das nicht passiert. Eine halbe Ewigkeit hat das gedauert. Glauben Sie an die Ewigkeit?
    Ganz sicher sogar.
    Der Mond wird uns davonfliegen. Er wird der Erde entwischen. Irgendwann dauert unser Tag zwanzigmal so lang wie heute, fünfundzwanzigmal. Das wird ein Theater.
    Du hast ja gar keine Ahnung, wie lange ein Tag werden kann, Jungchen.
    Und wissen Sie, warum es eine Sonnenfinsternis gibt? Ja? Na immerhin. Aber es wird sie nicht lange geben. Bald wird der Mond zu fern sein.
    Du redest und redest und redest.
    Weil ich jetzt verstanden habe, wer Sie sind. Mein Herz und die Sonne gegen Ihre Niedertracht. Wissen Sie überhaupt, was uns die Sonne schickt? Was Licht ist? Das schöne Licht, das Sie anpreisen? Verstehen Sie die Sonne? Verstehen Sie, was Gammastrahlen sind?
    Reiz mich nicht, Jungchen.
    Wissen Sie, wie alt das Licht ist, das Sie sehen? Es ist eine Million Jahre alt. So lange dauert der Weg der Lichtteilchen vom Kern der Sonne an ihre Oberfläche. Wir sitzen hier vor dieser Aussicht, umgeben von einer Million Jahre alten Teilchen. Gut, die Erde ist noch viel älter, aber ich bin trotzdem dankbar, dass sie sich so viel Mühe gemacht haben.
    Willst du wirklich weiterreden,

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