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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Jonas zu Werner gezogen war, verloren für ihn die hohen kirchlichen Feste ihre Bedeutung. Es wurde nichts außer den Geburtstagen gefeiert.
    »Gibt es bei euch kein Weihnachten?« fragte Jonas.
    »Nein, wieso?« antwortete Werner.
    »Weil man das eben feiert.«
    »Wieso?«
    »Na ganz einfach … weil man Geschenke kriegt und so.«
    »Die kriegen wir ja sowieso.«
    »Ja gut … aber wegen dem Baum … und wegen Gott.«
    »Lass das mal nicht den Boss hören. Der will von Gott nichts wissen. Er sagt, Gott ist ein Nazi.«
     
    Kleidung kauften die Jungen immer gemeinsam mit Zach. Was ihm gefiel, durfte Jonas für Mike ein zweites Mal einpacken, der immer das Gleiche anhaben wollte wie er. Um sich von Mike zu unterscheiden, trug Jonas stets noch einen Gürtel oder ein Armband, was jedoch nur Werner auffiel. Weil Mike oft stumm dasaß und man nicht auf den ersten Blick merkte, dass er die Welt mit anderen Augen sah, kam es mitunter zu Verwechslungen. Jonas und Werner gefiel die Verwirrung, die die Zwillinge bei manchen Hausbewohnern anrichteten, und Jonas trieb sie gern auf die Spitze, indem er sich zuweilen als Mike ausgab, um auf diese Weise herauszufinden, wie sich die Menschen seinem Bruder gegenüber benahmen. Wer nett zu Mike war, den mochte er. Wer böse zu ihm war, fand am nächsten Tag Hundekot in seinen Schuhen oder halbtote Mäuse im Bett.
     
    Die Volksschule hatten Jonas und Werner dank einer nachsichtigen Lehrerin hinter sich gebracht, und nun stellte sich die Frage, wie es weitergehen sollte. Zwei Abgesandte einer Hochbegabtenschule kamen ins Haus und prüften sie. Der IQ beider Jungen lag im Spitzenbereich, dennoch weigerte sich die Schule mit Hinweis auf ihre disziplinären Defizite, sie aufzunehmen.
    Von da an ließ Picco die beiden im Haus unterrichten.
     
    Es gab vier festangestellte Lehrer für Mathematik, Deutsch, Englisch und Latein, außerdem noch einen Russen und einen Italiener, weil Jonas so gern Sprachen lernte, dazu kamen wechselnde Vortragende für die Fächer Geschichte, Geografie, Chemie, Physik, Biologie und Philosophie, die meisten waren ausgewiesene Spezialisten.
    Es kamen Nobelpreisträger ins Haus, Olympiasieger, Fernsehstars, Schachgenies, Künstler, Politiker und Zauberer. Manche blieben länger, andere kürzer, viele nur einen Tag. Jonas und Werner schafften es, einen missliebigen Lehrer nach dem anderen in die Flucht zu schlagen, bis das Personal ihren Wünschen entsprach. Egal, wie schlimm sie es trieben, ob sie den Lehrern ein Feuerzeug in den Auspufftopf ihres Autos schoben, sie mit Bienenstöcken traktierten oder das Essen mit Abführmittel versetzten, von Picco bekamen sie niemals Vorwürfe zu hören. Und auch sonst von niemandem.
    Mit dem Sportlehrer hätten sie sich indes niemals angelegt, denn zum einen mochten sie ihn sehr, zum anderen hätte der sich zu helfen gewusst. Es war Zach, der sie in einer Kampfkunst unterrichtete, die er Wing Chun nannte und von der sie nie zuvor gehört hatten. Er behauptete, sie von einem Meister in Hongkong gelernt zu haben, einem gewissen Wong Shun Leung.
    Gleich zu Anfang des Unterrichts machte er die Jungen mit den vier Kampfprinzipien dieser Kunst vertraut: 1. Ist der Weg frei, stoße vor. 2. Ist der Weg versperrt, bleibe stehen. 3. Ist der Gegner stärker, gib nach. 4. Zieht sich der Gegner zurück, folge ihm. Das war praktisch und einfach zu merken.
    Es gab auch vier Kraftprinzipien, und Zach sagte, diese seien der Schlüssel zu allem, was er über das Leben und das Kämpfen wusste: Mach dich frei von deiner eigenen Kraft. Mach dich frei von der Kraft deines Gegners. Nutze die Kraft des Gegners. Füge deine eigene Kraft hinzu.
    Sie übten oft stundenlang. Jeder Tag begann mit der »Kleinen Idee«, bei der Jonas vor einem Spiegel stand und jene Bewegungsabfolgen übte, die sich »sein Rückgrat merken sollte«, wie es Zach ausdrückte. Danach versank er im Chi Sao, der klebenden Hand, einer Übung, bei der die Trainingspartner einander gegenüberstanden und in einer unaufhörlichen Bewegungsschleife sich an den Armen drückten, ohne je den Kontakt zu verlieren. Drückte man zu fest, verschwendete man Kraft und konnte vom anderen aus dem Gleichgewicht gebracht werden, drückte man zu sanft, konnte man selbst weggedrückt werden. Es war eine Übung, bei der Jonas in seinen und den Körper des anderen hineinlauschte, und er fand sich oft in einer Art Trance wieder, nach der er sich an keinerlei Einzelheiten mehr erinnern

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