Das große Buch der Lebenskunst
der Leserin zur Blüte heranreift.
Flieh nicht vor dir selbst
D as ständige Beschäftigtsein kann auch eine Form der Flucht sein, der Flucht vor der
Selbsterkenntnis. Dies gilt für Menschen, die mitten im Berufsleben und sich vor lauter Arbeit keine Zeit gönnen. Es gilt aber besonders auch für ältere
Menschen. Für C. G. Jung ist die Chance des Alters, nach innen zu horchen, sich Gott zu stellen und in ihm die Erfüllung seines Lebens zu sehen. Heute
besteht die Seniorenarbeit vielfach darin, die Leute zu beschäftigen. Man macht weite Fahrten, bietet ständig Programme an. Das ist alles gut gemeint und
oft genug sicher richtig. Aber wenn man vor lauter Beschäftigung die Chance des Alters verpasst, dann stimmt es eben nicht mehr.
Nach C. G. Jung besteht unsere Aufgabe darin, ab der Lebensmitte nach innen zu schauen und zu unserem Selbst zu kommen. Wir müssen aufhören, außen nach
Erfüllung zu suchen. Für Jung ist das Altwerden ein heiliger Prozess, der den Raum des Schweigens braucht. So schreibt er einem Mann, der unbedingt mit
ihm reden wollte: »Einsamkeit ist für mich eine Heilquelle, die mir das Leben lebenswert macht. Das Reden wird mir öfters zur Qual, und ich brauche oft
ein mehrtägiges Schweigen, um mich von der Futilität der Wörter zu erholen. Ich bin auf dem Abmarsch begriffen und schaue nur zurück, wenn es nicht anders
zu machen ist. Diese Abreise ist an sich schon ein großes Abenteuer, aber keines, über das man ausführlich reden möchte … Der Rest ist Schweigen! Diese
Einsicht wird mit jedem Tag deutlicher, das Mitteilungsbedürfnis schwindet.« Die geistliche Aufgabe des Alterns besteht darin, sich über das Geheimnis des
Lebens und Sterbens Gedanken zu machen. Und dazu braucht es den Raum der Stille. Wer sein Alter mit lauter Beschäftigung verbringt, vergibt diese
Möglichkeit, er vertut eine große Chance zur Reifung.
Von Lilien lernen
L ernt von den Lilien, die auf dem Feld wachsen: Sie arbeiten nicht, sie spinnen nicht. Ich sage euch:
Selbst Salomo war in all seiner Pracht nicht so gekleidet wie eine von ihnen.«
Was sagt dieser Satz Jesu aus der Bergpredigt, den Matthäus überliefert, heute noch?
Ernst Bloch, der atheistische Philosoph, meint, dieses Wort Jesu offenbare seine ökonomische Romantik. Jesus hätte keine Ahnung von wirtschaftlichen
Zusammenhängen. Doch Jesus weigert sich, das Leben mit Arbeit zu identifizieren. Das Leben ist mehr als Arbeiten. Das Leben ist auch dankbares Genießen
dessen, was gewachsen ist, auf dem Feld, aber auch auf dem Acker meiner Seele. Der Mensch sorgt sich um sein Essen und um seine Kleidung. Das sind die
beiden ursprünglichsten Motivationen für seine Arbeit. Doch bevor wir uns das Essen und die Kleider verdienen, sollten wir sehen, dass Gott uns Nahrung
schenkt und uns kleidet. Die Kleider können nur die Schönheit, die Gott dem Menschen geschenkt hat, deutlicher hervortreten lassen. Aber sie können keinen
hässlichen Menschen schön machen. Die eigentliche Schönheit des Menschen kommt von Gott, so wie die Schönheit der Lilien von Gott herrührt. Bevor wir uns
an die Arbeit machen, sollten wir erst wahrnehmen, was Gott uns Tag für Tag schenkt. Dann wird die Arbeit den richtigen Rahmen erhalten. Sie wird uns
nicht bestimmen, sondern Ausdruck unserer Kreativität sein. Sie wird nicht aus Angst, sondern aus Lust am Schaffen aus uns herausfließen. Sie gehört zu
unserem Leben, auch mit ihren Mühen. Aber sie hört auf, unser Leben zu beherrschen.
Finde dein Mass
J eder Mensch hat sein persönliches Maß. Was ist dein eigenes ganz persönliches Maß? Wo bist du über dein
Maß hinausgegangen? Bei welchen Gelegenheiten hast du gespürt, dass du deinen Lebenswagen nicht mehr zu lenken vermagst? Es geht darum, das eigene Maß zu
finden. Ein Weg, das eigene Maß zu finden, geht über das Erspüren der eigenen Stimmigkeit. Wenn du mit dir im Einklang bist, wenn du innerlich zur Ruhe
kommst, mit dir übereinstimmst, dann spürst du das Maß, das für dich stimmt. Und wenn du nach diesem Maß lebst, dann wird auch dein Leben Frucht
bringen. Nicht darum geht es, dass du dich mit anderen vergleichst, sondern dass du den Mut findest, dein eigenes Maß zu finden und nach deinem Maß auch
zu leben. Dann wird dein Leben heil und ganz. Und es wird auch für andere zur Quelle des Segens.
Was ist dein Ziel?
O ft genug verlieren wir über all den vielfältigen Aktivitäten und den hektischen
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