Das große Buch der Lebenskunst
Verdienen sie mehr Geld als ich? Ziehen sie mehr Aufmerksamkeit auf sich, als mir das gelingt? Sind
sie spiritueller als ich? Solange ich mich mit anderen vergleiche, werde ich nie zur Ruhe finden. Ich werde mich entweder entwerten und die andern
aufwerten oder aber umgekehrt. Aber ich bin nie bei mir. Ich bin immer bei den andern. Und so komme ich nie zur Ruhe. Nur wenn ich darauf verzichte, mich
mit andern zu vergleichen, werde ich Ruhe finden. Dann werde ich mit mir selbst konfrontiert und eingeladen, mich mit mir und meiner Wirklichkeit
auszusöhnen. Der Verzicht auf das Sich-Vergleichen führt mich zur Dankbarkeit für das, was Gott mir geschenkt hat und jeden Augenblick anbietet. Anstatt
auf die andern zu schauen, nehme ich mich wahr, wie ich selber bin. Ich bin bei mir. Ich bin einfach da. Das ist die Bedingung, um Ruhe finden zu
können. Denn Ruhe heißt einfach: da sein, ruhen, im Einklang mit sich sein, im Frieden den Augenblick genießen.
Nicht-Richten
E in Kennzeichen, ob die Askese den Mönch zu Gott geführt hat, ist das Nicht-Richten. Wenn ein Mönch noch
so streng fastet und noch so hart arbeitet, dann taugt das alles nicht, wenn er trotzdem noch andere richtet. Die Askese hat ihn dann nur dazu geführt,
dass er sich über andere erheben kann. Sie hat der Befriedigung seines Stolzes gedient, der Steigerung seines Selbstwertgefühls. Wer in seiner Askese sich
selbst begegnet ist, wer es ausgehalten hat, im Kellion zu bleiben, wenn das Verdrängte hochkommt, dem ist jedes Richten über andere vergangen. So mahnen
viele Vätersprüche dazu, bei sich zu bleiben, sich mit der eigenen Wahrheit zu konfrontieren und nicht über andere zu richten.
»Der Altvater Poimen bat den Altvater Joseph: ,Sage mir, wie ich Mönch werde.‘ Er antwortete: ,Wenn du Ruhe finden willst, hier und dort, dann sprich
bei jeder Handlung: Ich – wer bin ich? Und richte niemand?‘«
Urteile nicht
A ndere nicht zu richten ist für die Wüstenväter auch eine Hilfe, die eigene innere Ruhe zu finden. Wenn
wir aufhören, andere zu verurteilen, tut uns das selber gut.
»Abbas Poimen wurde von einem Bruder gefragt: ,Was soll ich tun, Vater, denn ich werde von Traurigkeit niedergeschlagen?‘ Der Greis antwortete ihm:
,Schaue niemand für nichts an, verurteile niemand, verleumde niemand, und der Herr wird dir Ruhe geben.‘«
Das Urteilen verschafft uns keine Ruhe. Denn indem wir den andern verurteilen, spüren wir unbewusst ja doch, dass wir auch nicht perfekt sind. So ist
der Verzicht auf das Urteilen und Richten ein Weg zum inneren Frieden mit uns selbst. Wir lassen die andern sein, wie sie sind, und können auf diese Weise
auch wir selber sein.
»Ein Altvater wurde einmal von einem Bruder gefragt: ,Warum urteile ich eigentlich so häufig über meine Brüder?‘ Und er antwortete ihm: ,Weil du dich
noch nicht selbst kennst. Denn wer sich selber kennt, der sieht die Fehler der Brüder nicht.‘«
Distanz und Nähe
G edanken und Gefühle können unser Leben bestimmen. Wir können uns von Ärger und Ressentiments bestimmen
lassen. Wichtig ist, dass wir unsere Gefühle ernst nehmen, dass wir sie nicht gleich bewerten. Sie haben alle ihren Sinn. Auch Ärger und Wut haben ihren
Sinn. Es kommt nur darauf an, angemessen damit umzugehen. Aggressionen wollen das Verhältnis von Nähe und Distanz regeln. Wenn wir also aggressiv werden,
ist es immer ein Zeichen, dass wir mehr Distanz brauchen, dass wir andern zu viel Macht über uns gegeben haben.
Ich kenne auch selber die Erfahrung, dass ich meine Gefühle fromm entwerte. Wenn ich in einem Beichtgespräch Ärger spüre, weil es so zäh geht, dann
reiße ich mich zusammen und sage mir: »Der andere kann nichts dafür. Ich bin Priester, und ich bin freundlich.« Doch ein Mitbruder sagte mir – zu Recht
– einmal: »Nimm deinen Ärger ernster, sonst wirst du ärgerlich auf alle Menschen.«
Ich kenne Menschen, die in ihrer Jugend begeistert waren – und auf einmal pessimistisch und destruktiv werden. Der Grund dafür: Sie haben jahrelang
ihren Ärger nicht ernst genommen und sind nun auf alle und alles ärgerlich geworden. So weit sollten wir es nicht kommen lassen. Das schulden wir den
anderen – und uns selber.
Wut tut gut – Zorn zerreisst
W ut ist oft eine wichtige Kraft, um uns von negativen Erinnerungen zu befreien und um Menschen aus uns
herauszuwerfen, die uns verletzt haben. Solange wir um die Verletzung kreisen, geben wir
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