Das große Buch der Lebenskunst
möchte das Zarte in mir mit Geschrei übertönen. Doch das tut meiner Seele nicht gut. Wenn ich mich des andern erbarme, bin ich auch mir selbst
gegenüber barmherzig. Barmherzig sein heißt, ein Herz für das Arme und Verwaiste, für das Elende und Verwundete in mir zu haben. Ich kenne allerdings auch
Menschen, die andern gegenüber barmherzig sind, aber sich selbst mit einem harten und fordernden Herzen begegnen. Bei diesen Menschen kommt das Erbarmen
nicht wirklich aus ihrem Herzen. Es entspringt nur ihrem Willen. Doch in solchen Fällen kommt das Erbarmen beim andern nicht wirklich als Barmherzigkeit
an, sondern eher als etwas, das dem Empfänger ein schlechtes Gewissen macht, das ihn mit Schuldgefühlen erfüllt. Bei solcher »Barmherzigkeit« fühle ich
mich nicht wohl. Ich werde die Barmherzigkeit des andern nur als wohltuend erfahren, wenn er mit sich selbst barmherzig umgeht. Dann wird das Erbarmen
wechselseitig. Das Erbarmen tut mir und dem andern gut. Beide spüren wir unsere Herzen, die aufhören, zu verurteilen und zu fordern, die sich vielmehr
öffnen und sich erbarmen.
Gutes tun
D urch nichts ist der Mensch den Göttern näher, als wenn er seinem Nächsten Gutes tut.« Der römische
Philosoph und Redner Cicero hat das gesagt und also schon vor Christus und außerhalb der jüdischen Theologie erkannt, dass die Nächstenliebe den Menschen
in die Nähe Gottes bringt. Wer etwas Gutes tut, wird im andern Menschen etwas von seiner göttlichen Würde entdecken. Und er wird in sich selbst mit dem
göttlichen Kern in Berührung kommen. Er wird im Gutes-Tun entdecken, dass in ihm eine göttliche Liebe ist, an der er teilhat. Darin besteht seine tiefste
Würde.
Ruhiges Wasser
D as Sich-selbst-Aushalten ist die Voraussetzung für jeden geistlichen Fortschritt, aber auch für
menschliche Reife. Es gibt keinen reifen Menschen, der nicht den Mut hatte, sich selbst auszuhalten und seiner eigenen Wahrheit zu begegnen. Eine
Vätererzählung vergleicht das Bleiben in der Zelle mit dem ruhigen Wasser, in dem man sein Gesicht klarer erkennen kann: »Drei Studierende, die sich
liebten, wurden Mönche, und jeder von ihnen nahm sich ein gutes Werk vor. Der erste erzählte dies: Er wollte Streitende zum Frieden zurückführen, nach dem
Wort der Schrift: Selig sind die Friedfertigen. Der zweite wollte Kranke besuchen. Der dritte ging in die Wüste, um dort in Ruhe zu leben. Der erste, der
sich um die Streitenden müht, konnte doch nicht alle heilen. Und von Verzagtheit übermannt, ging er zum zweiten, der den Kranken diente, und fand auch den
in gedrückter Stimmung. Denn auch er konnte sein Vorhaben nicht ganz ausführen. Sie kamen daher beide überein, den dritten aufzusuchen, der in die Wüste
gegangen war, und sie erzählten ihm ihre Nöte und baten ihn, er möge ihnen aufrichtig sagen, was er gewonnen habe. Er schwieg eine Weile, dann goss er
Wasser in ein Gefäß und sagte ihnen, sie sollten hineinschauen. Das Wasser war aber noch ganz unruhig. Nach einiger Zeit ließ er sie wieder hineinschauen
und sprach: ,Betrachtet nun, wie ruhig das Wasser jetzt geworden ist.‘ Und sie schauten hinein und erblickten ihr Angesicht wie in einem Spiegel. Drauf
sagte er weiter: ,So geht es dem, der unter den Menschen weilt: Wegen der Unruhe und Verwirrung kann er seine Sünden nicht sehen. Wer sich aber ruhig hält
und besonders in der Einsamkeit, der wird bald seine Fehler einsehen‘«.
Hier wird nicht die Nächstenliebe verurteilt. Es wird vielmehr die Gefahr deutlich, die im Helfenwollen stecken kann. Dameinen wir,
wir könnten der ganzen Welt helfen. Dahinter steckt jedoch oft ein Omnipotenzgefühl. Bei allem, was wir tun, braucht es immer wieder auch das Aushalten,
das Bleiben in der Zelle und das Schweigen. Dadurch wird das Wasser in unserem Gefäß ruhig, und wir können unsere Wahrheit in ihm erkennen.
Helfen
W er andern gerne hilft, wird wohlgenährt; wer andre sättigt, wird auch selber gesättigt.« (Sprüche 11,25)
Als das Buch des Psychologen Wolfgang Schmidbauer »Die hilflosen Helfer« erschien, wurde es modern, jedes Helfen zunächst einmal zu
hinterfragen. Manche Menschen helfen andern, doch in Wirklichkeit brauchen sie selbst Hilfe. Sie verlagern ihre Hilflosigkeit nach außen und erwarten sich
davon Rettung. Andere üben Macht aus mit ihrem Helfen. Doch bei allem kritischen Hinschauen gibt es eben auch das echte Helfen. Und das Helfen muss gar
nicht ganz
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