Das große Buch der Lebenskunst
Stürme
geraten. Aber – so sagt es uns die Bibel – wir sind nicht allein in unserem Boot. Da ist Jesus, der hinten im Boot liegt und schläft. Wir müssen ihn nur
aufwecken. Wenn er in uns aufsteht, dann gebietet er dem Sturm und in uns und um uns herum wird es still. (Mk 4,35–41)
Lebenslabyrinth
U nser Leben ist nie eine Einbahnstraße. Und auf dem Weg unseres Lebens, dem inneren und äußeren, gibt es
nicht nur die geradlinigen Entwicklungen. Oft müssen wir Umwege gehen. Nicht selten fühlen wir uns auf den Ausgangspunkt zurückgeworfen, so als sei alles
umsonst gewesen. Es scheint, wir müssten wieder von vorne anfangen. Die Labyrinthe in den mittelalterlichen Kirchen haben diese Erfahrung anschaulich
dargestellt und sie als Symbol für unseren Lebensweg erfahrbar gemacht. Diese Labyrinthe zeigen mir, wenn ich sie achtsam gehe, etwas über mich selbst: Es
gibt Wendepunkte, bei denen ich nur scheinbar wieder zum Ausgangspunkt zurückkehre. In Wirklichkeit ist es ein spiralförmiges Gehen. Ich werde durch
Umkehr an einen Punkt geführt, von dem aus ich eine Wendung erfahre. Jetzt kann ich mit neuer Kraft zur Mitte, dem eigentlichen Ziel weitergehen.
Sich wenden, dem in eingefahrenen Gleisen verlaufenen Leben eine Wendung geben – das gibt eine neue Perspektive. Es wandelt den Menschen. Der
scheinbare Irrweg wird so Bedingung für eine wirkliche Verwandlung. Scheinbare Rückschläge haben eine positive Wirkung. Sie zeigen sich als heilsame
Erfahrung.
Etwas riskieren
V on dem dänischen Philosophen Kierkegaard stammt ein Satz, der alle Liebhaber routinierter Gewohnheiten
erschrecken müsste: »Nichts riskieren heißt, seine Seele aufs Spiel setzen.«
Dass der, der nichts riskiert, wenig Neues zustande bringt, ist allen klar. Doch dass man ohne Risiko seine Seele aufs Spiel setzt, das ist eine
erstaunliche Aussage. Die Seele kann nach diesem psychologisch sehr scharfsinnigen und radikalen Satz Kierkegaards nur leben, wenn sie etwas riskiert.
Riskieren meint, etwas beginnen, dessen Ausgang ungewiss ist. Im Deutschen sagen wir dafür: etwas wagen. Wagnis enthält ein ähnliches Bild: Ich lege
etwas auf die Waage, ohne zu wissen, wie sie ausschlägt. So ein Risiko gehe ich in jeder Begegnung ein. Ich lege mich selbst auf die Waagschale, ohne zu
wissen, wie das, was ich einsetze, beim andern ankommt. Ich wage mich aus mir heraus. Oder wenn ich mich für etwas entscheide, weiß ich nie im Vorhinein,
wie es ausgeht. Doch wer sich nie entscheidet, wer sich immer vorher absichern möchte, der wird das Leben verpassen.
Kierkegaard hat Recht: Wer das Leben verpasst oder verweigert, dessen Seele erstarrt. Statt sich aufs Spiel zu setzen, setzt er seine Seele aufs
Spiel. Sie verkümmert und verdorrt.
Verwandle deine Wunden
J eder ist in seiner Lebensgeschichte verletzt worden. Meine Erfahrung ist aber: Heute kreisen viele
Menschen ständig um ihre Wunden. Es gibt eine Sucht, alle Verletzungen der Kindheit zu entdecken, um sie dann aufarbeiten zu können. Dahinter steckt der
Gedanke der Perfektion und der Leistung. Wir meinen, wir müssten alle Wunden abarbeiten, wir müssten alles Krankmachende in uns ausradieren. Doch dieser
Weg führt in die Sackgasse. Der wahre Weg besteht darin, dass wir uns aussöhnen mit unseren Verletzungen. Für Hildegard von Bingen besteht die Kunst
menschlicher Selbstwerdung darin, dass unsere Wunden zu Perlen verwandelt werden. Wie kann das geschehen?
Die Verwandlung meiner Wunden zu Perlen besteht für mich einmal darin, dass ich diese Wunden als etwas Kostbares verstehe. Dort, wo ich verwundet bin,
bin ich auch sensibel für die Menschen. Ich verstehe sie besser. Und noch mehr: Wo ich verwundet bin, komme ich in Berührung mit dem eigenen Herzen, mit
meinem wahren Wesen. Ich gebe die Illusion auf, als ob ich ganz und gar stark und gesund und perfekt wäre. Ich nehme meine Brüchigkeit wahr. Das hält mich
lebendig und macht mich menschlicher, barmherziger, milder. Dort, wo ich verletzt bin, liegt auch mein Schatz. Dort komme ich in Berührung mit meinem
wahren Selbst und mit meiner Berufung. Dort entdecke ich auch meine Fähigkeiten. Nur der verwundete Arzt vermag zu heilen – das wussten schon die
Griechen.
Die »Verwandlung der Wunden zu Perlen« meint für mich aber noch etwas anderes. Für mich sind die Wunden der eigentliche Ort der Gotteserfahrung. Wie
ist das zu verstehen? Ich nehme das Beispiel meiner Angst. Wenn ich gegen die
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