Das große Buch der Lebenskunst
Resignation. Sie sind das Hoffnungszeichen schlechthin. Nach C. G. Jung hängt das Gelingen unseres Lebens davon ab, wie wir mit dem Leid
umgehen. Nicht masochistisches Kreisen um das Leid, sondern Durchgang durch das Leid führt zum Leben.
Was uns Not tut: jetzt schon aufzustehen aus dem Dunkel in das Licht, aus der Enge in die Weite, aus der Starre in die Lebendigkeit, aus dem Grab in
das aufrechte Stehen und Gehen. Auferstehung geschieht hier und jetzt für den Einzelnen, aber auch für die Gemeinschaft, wenn Menschen aufstehen gegen
ungerechte Strukturen, wenn Menschen den Aufstand wagen gegen alle Hindernisse des Lebens.
Besitz
I mmer wieder in unserem Leben geht es um das Loslassen, Loslassen von Sicherheiten, von Besitz. Nicht nur
von materiellem Besitz. Immer wieder sind wir in unserem Leben herausgefordert, uns von manch lieben Vorstellungen zu lösen, um uns immer wieder neu auf
neue Wege führen zu lassen. Letztlich geht es darum, uns selbst loszulassen. Wir stehen uns selbst oft genug im Weg. Spirituelle Reifung kann nur
geschehen, wenn wir uns loslassen, wenn wir es aufgeben, uns festzukrallen an unserer Gesundheit, an unserer Kraft, an unserer Position.
Vielleicht geht es uns wie dem Landpfarrer bei Bernanos, der kurz vor seinem Tod betet: »Du hast mich ganz und gar entblößt, wie nur du zu entblößen
vermagst.« Aber darin erfährt er auch Freiheit. Darin erfährt er, dass er sich ganz und gar diesem Gott zur Verfügung stellen darf und gerade dadurch
fruchtbar wird für diese Welt.
Alleinsein
A llein und ehelos zu leben kann eine Quelle von Lebendigkeit und Fruchtbarkeit sein kann. Die geistliche
Tradition hat Ehelosigkeit als Überlassen beschreiben. Ich überlasse mich Gott, damit Er mich in Dienst nimmt, damit Er das Bild in mir ausprägt, das Er
sich von mir gemacht hat, damit Er sich durch mich auf einzigartige Weise in dieser Welt ausdrücken und Gestalt werden kann. Und ich überlasse mich den
Menschen. Ehelosigkeit im Dienst der Gemeinschaft hat das Ziel, Gemeinschaft zu stiften, ein Gespür für alle Menschen zu entwickeln. Und sie hat mit
Freiheit zu tun. Vacare deo nennen es die Alten: frei sein für Gott. Aber diese Freiheit kann auch nur erfüllt gelebt werden, wenn ich meine
tiefste Heimat in Gott finde, wenn ich mein Herz in ihm festmache. Und dazu ist eben eine gesunde Lebenskultur wichtig.
Wenn ich Ehelosigkeit so lebe, kann sie eine eigene Quelle von Lebendigkeit und Fruchtbarkeit werden. Es gibt eine Form von Lebendigkeit, die in der
Ehelosigkeit besser gelebt werden kann als in der Ehe. Aber wir werden diese Lebendigkeit auch nur dann in uns spüren, wenn wir die Sexualität als Quelle
unserer Spiritualität entdecken und sie in alle Lebensvollzüge hinein integrieren.
Das Altwerden annehmen
D er Prozess des Alterns wird besser gelingen, wenn ich anschaue, was sich bei diesem Prozess in meiner
Seele tut. Sich seiner eigenen Wahrheit zu stellen kann weh tun. Es ist nur zu leicht verständlich, dass viele dieser schonungslosen Selbsterkenntnis im
Alter ausweichen. C. G. Jung nennt einige Fluchtmöglichkeiten alter Menschen vor sich selbst. Da ist einmal das krampfhafte Festhalten am Jungsein. Man
will sich dem Alter nicht stellen, man will sich jung halten, man joggt und treibt Sport und ahmt in Kleidung und Auftreten die Jungen nach. Man will sich
mit Gewalt jung halten.
C. G. Jung meint, unsere biologische Lebenslinie sei ein Halbkreis. Ab der Lebensmitte neigt sie sich wieder nach unten. Wenn ich mich damit aussöhne,
wird meine psychologische Reifungslinie nach oben gehen. Doch wenn ich mich krampfhaft jung halte und gegen meine Biologie lebe, wird meine psychologische
Linie abknicken. Jung nennt das Festhalten am Jungsein eine Perversion. »Ein Junger, der nicht kämpft und siegt, hat das Beste seiner Jugend verpasst, und
ein Alter, welcher auf das Geheimnis der Bäche, die von Gipfeln in Täler rauschen, nicht zu lauschen versteht, ist sinnlos, eine geistige Mumie, welche
nichts ist als erstarrte Vergangenheit. Er steht abseits von seinem Leben, maschinengleich sich wiederholend bis zur äußersten Abgedroschenheit. Was für
eine Kultur, die solcher Schattengestalten bedarf!«
Der Weg geht von außen nach innen. Wir müssen Altwerden annehmen als Chance, in uns neue Welten zu entdecken.
Nicht ausweichen
D as Altern ist Vorbereitung auf den Tod. Wer dem Tod ausweicht, weicht der wichtigsten Aufgabe seines
Lebens aus.
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