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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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entschuldigte ich mich und ging nach draußen in den Garten. Als ich zurückkehrte, war das Fenster heil, und der Glaser lächelte, stolz auf seine Arbeit.
    Ich verstand nun, was ich im tiefsten Inneren die ganze Zeit verstanden hatte: dass ich Lotte nie so hätte bestrafen können, wie sie sich selbst bestraft hatte. Dass letztlich ich es war, der sich nie eingestanden hatte, wie viel er wusste. Der Liebesakt ist immer ein Geständnis, schreibt Camus. Aber das gilt auch für das leise Türenschließen. Einen Schrei in der Nacht. Einen Treppensturz. Ein Husten im Flur. Mein Leben lang hatte ich versucht, in ihre Haut zu schlüpfen. Mich in ihren Verlust hineinzuversetzen. Es versucht und versagt. Nur, vielleicht – wie soll ich das ausdrücken? –, vielleicht wollte ich versagen. Meine Liebe zu ihr war ein Versagen meiner Vorstellungskraft.
     
    Eines Abends klingelte es an der Haustür. Ich hatte niemanden erwartet. Es gab nichts und niemanden mehr zu erwarten. Ich legte mein Buch weg, nicht ohne die Seite sorgfältig mit einem Lesezeichen zu markieren. Lotte hatte ihre Bücher immer aufgeschlagen abgelegt, und als wir uns kennenlernten, hatte ich sie mit dem Spruch geärgert: Ich höre schon den schrillen kleinen Schrei, wenn es sich das Rückgrat bricht. Es war ein Scherz, aber später, wenn sie aus dem Zimmer oder schlafen gegangen war, nahm ich das Buch und legte ein Lesezeichen hinein, bis sie es eines Tages hochhob, das Lesezeichen herausriss und es auf den Boden knallte. Tu das nie wieder, sagte sie. Und mir war klar, dass nun erneut etwas allein ihr gehörte und mir von Stund an für immer versperrt sein würde. Von da an fragte ich sie nicht mehr, was sie las. Ich wartete, bis sie freiwillig mit etwas herausrückte – einem Satz, der sie bewegte, einer glänzenden Passage, einer lebhaft beschriebenen Figur. Manchmal kam es, manchmal nicht. Aber fragen durfte ich nie.
    Ich ging die paar Schritte den Hausflur hinunter zur Tür. Strolche, dachte ich, das Wort des Glasers, das mir eben wieder in den Sinn gekommen war. Aber durch den Gucker sah ich, es war ein Mann in meinem Alter, der einen Anzug trug. Ich fragte, wer da sei. Er räusperte sich auf der anderen Seite der Tür. Mr.   Bender?, fragte er.
    Er war ein kleiner Mann, mit schlichter Eleganz gekleidet. Der einzige Schmuck bestand aus einem Spazierstock mit silbernem Knauf. Unwahrscheinlich, dass er gekommen war, um mich niederzuknüppeln oder auszurauben. Ja?, sagte ich, in der offenen Tür stehend. Mein Name ist Weisz, sagte er. Verzeihen Sie, dass ich nicht vorher angerufen habe. Aber er rechtfertigte sich nicht. Ich möchte gern über etwas mit Ihnen sprechen, Mr.   Bender. Wenn es nicht allzu sehr stört – er schaute an mir vorbei ins Haus hinein –, darf ich hereinkommen? Ich fragte, worum es sich handele. Um einen Schreibtisch, sagte er.
    Ich bekam weiche Knie. Ich war wie gelähmt. Mit Sicherheit, das konnte nur er sein: der, den sie geliebt, in dessen Schatten ich mir ein Leben mit ihr erkämpft hatte.
    Wie im Traum führte ich ihn ins Wohnzimmer. Er bewegte sich ohne zu zögern, als kenne er den Weg. Mich durchlief es kalt. Warum war ich nie auf die Idee gekommen, dass er früher schon mal hier gewesen sein könnte? Er steuerte direkt auf Lottes Sessel zu und stand wartend da. Ich bat ihn mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen, während meine Beine unter mir nachgaben. Wir saßen einander gegenüber. Ich in meinem Sessel, er in ihrem. So, wie es immer war, dachte ich jetzt.
    Es tut mir leid, dass ich so hereinplatze, sagte er. Aber er sprach mit einer Gelassenheit, die seine Worte Lügen strafte, mit einem Selbstvertrauen, das beinahe zum Fürchten war. Er hatte einen israelischen Akzent, obwohl, dachte ich, durch Vokale und Betonungen von anderswo gemildert. Dem Aussehen nach musste er Ende sechzig, vielleicht siebzig sein, also ein paar Jahre jünger als Lotte. Eben da dämmerte es mir. Wieso war ich nicht schon früher darauf gekommen? Einer ihrer Schützlinge von dem Kindertransport! Ein Junge von vierzehn, vielleicht fünfzehn Jahren. Höchstens sechzehn. Am Anfang mögen die paar Jahre viel erschienen sein. Aber mit der Zeit weniger und weniger. Als er achtzehn war, wäre sie zwanzig oder einundzwanzig gewesen. Sie hätten ein unlösbares Band geteilt, eine Privatsprache, eine in bloßen Silben enthaltene verlorene Welt, Kürzel, die sie nur aussprechen mussten, um einander vollkommen zu verstehen. Oder gar keine Sprache –

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