Das große Haus (German Edition)
wecken, legte ich mir im Stillen oft meine Verteidigung zurecht. Sie hat ihn weggegeben! Und ich habe ihn genommen. Ich liebte ihn wie mein eigenes Kind! Trotzdem bedrückte mich ein Schuldgefühl. Er schrie so viel, und immer dieses verzerrte Gesicht, der aufgesperrte Mund. Der Doktor sagte, das seien Koliken, aber ich glaubte es nicht. Ich war mir sicher, dass er nach seiner Mutter schrie. Manchmal, wenn ich es nicht mehr aushielt, schüttelte und schimpfte ich ihn, damit er aufhörte. Dann sah er mich einen Augenblick an, überrascht oder vielleicht stumm vor Schreck. In seinen dunklen Augen sah ich den harten Funken eigensinniger Entschlossenheit. Und dann ging das Kreischen erst richtig los. Manchmal knallte ich die Tür zu und ließ ihn schreien. Ich saß hier, wo ich jetzt sitze, und hielt mir die Ohren zu, bis ich nervös wurde wegen der Nachbarn, die es hören und Verdacht schöpfen könnten, ich würde das Baby vernachlässigen.
Aber es kam weder ein Anruf noch ein Brief, sagte Mrs. Fiske. Und nach drei oder vier Monaten beruhigte sich Teddy und schrie weniger. Wir entdeckten Dinge miteinander, er und ich, kleine Rituale, Lieder zum Einschlafen. Eine Art Verständigung, wie tastend auch immer, entwickelte sich zwischen uns. Er lernte mich anzulächeln, ein schiefes Lächeln mit offenem Mund, aber es erfüllte mich mit Freude. Ich wurde sicherer. Zum ersten Mal, seit ich ihn mit nach Hause gebracht hatte, fuhr ich ihn im Kinderwagen spazieren. Wir gingen durch den Park, und er schlief im Schatten, während ich auf der Bank saß, fast genau wie jede andere Mutter. Fast, aber nicht ganz, denn jeden Tag überfiel mich aus irgendeinem Schlupfwinkel – meistens in der Dämmerung oder nachdem ich das Baby schlafen gelegt hatte und mir ein Bad einlaufen ließ, aber gelegentlich auch ohne Vorwarnung genau in dem Moment, in dem meine Lippen seine Wange berührten – das Gefühl, eine Betrügerin zu sein. Es legte sich mir um den Hals wie zwei kleine kalte Hände, und sofort war der ganze Rest wie ausgelöscht. Zuerst erfüllte es mich mit Verzweiflung, sagte Mrs. Fiske. Ich hasste mich dafür, dass ich mich benahm, als wäre ich wirklich seine Mutter, obwohl ich das – so empfand ich es in diesen erschreckenden, klarsichtigen Momenten – nie sein konnte. Während ich ihn fütterte, ihn badete oder ihm etwas vorlas, war ich immer halbwegs irgendwo anders, fuhr in einer fremden Stadt mit der Straßenbahn durch den Regen oder ging über eine Promenade am nebligen Ufer eines Alpensees, der so groß war, dass ein Schrei verhallt und erloschen wäre, bevor er das andere Ufer erreichte. Meine Schwester hatte keine Kinder, und ich kannte nicht viele andere junge Mütter. Diejenigen, die ich kannte, hätte ich nie zu fragen gewagt, ob sie das Gleiche empfanden. Ich nahm es als mein eigenes Versagen, eine Störung, die irgendwie daher rühren musste, dass ich Teddy nicht selbst empfangen hatte, die aber letztlich als Unzulänglichkeit im Kern meiner selbst zum Ausdruck kam. Und doch, was sollte ich tun, als es ungeachtet dessen zu versuchen? Niemand fragte nach ihm. Er hatte nur mich. Ich unternahm eine riesige Anstrengung, verschwendete endlose Aufmerksamkeit an ihn, um es wiedergutzumachen. Teddy wuchs zu einem vergnügten Kind heran, obwohl ich manchmal den flüchtigen Schimmer einer lange angestauten Verzweiflung in seinen Augen sah oder zu sehen glaubte, mir anschließend aber auch nicht so sicher war, ob es nicht einfach Nachdenklichkeit gewesen sein könnte, die in Kindergesichtern aus irgendeinem Grund ja immer ein wenig traurig wirkt.
Zu dieser Zeit machte ich mir keine Sorgen mehr, dass sie kommen könnte und ihn wiederhaben wollte, sagte Mrs. Fiske. Ich empfand ihn als mein Eigen, ganz unabhängig von meinen Fehlern, meiner mangelnden Aufmerksamkeit, die er mir immer entschiedener abverlangte, und egal, wie ungeduldig ich mit manchen seiner kleinen Spiele war, die er pausenlos wiederholen wollte, egal, was für eine lähmende Langeweile mich manchmal befiel, nachdem ich ihn angezogen hatte und wieder ein sich ewig dehnender Tag wie ein endloser Parkplatz vor uns lag. Ich wusste, er liebte mich trotz allem, und wenn er auf meinen Schoß krabbelte und dort seinen natürlichsten Platz fand, hatte ich das Gefühl, es gebe keine zwei Menschen, die sich so gut verstanden wie er und ich, und das müsse schließlich mit dem gemeint sein, was man Mutter und Kind nennt. Mrs. Fiske stand auf, um meine
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