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Das große Los

Das große Los

Titel: Das große Los Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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ebenfalls einen Diabolo, musterte sie flüchtig und ging wieder hinaus.
    Ein paar Augenblicke später kam er zurück, bestellte nichts, sprach aber leise mit dem Wirt, der harmlos um den Tresen herumkam und an Lilis Tisch trat.
    »Sind Sie das, die auf jemand wartet?«
    »Ja.«
    »Er hat es nicht bis hierher geschafft, aber er erwartet Sie.«
    Sie fragte erstarrt:
    »Wo?«
    »Man bringt Sie hin …«
    Der Mann vom Tresen war an den Tisch getreten, die Zigarette im Mundwinkel, als gehe ihn das Ganze nichts an.
    »Kommen Sie«, sagte er. »Es ist nicht weit.«
    »Aber …«
    Sie sah die Telefonzelle in der Ecke.
    »Ich muß noch telefonieren.«
    Die beiden Männer sahen einander an. Dann sagte der Wirt mit Nachdruck:
    »Das Telefon ist kaputt.«
    Das war gelogen, denn sie hatte ja selber erst heute nachmittag hier angerufen, und die Frau bei den vier Kartenspielern hatte eben noch telefoniert.
    In diesem Moment fühlte sie sich dermaßen kleinmädchenhaft, daß sie fast losgeheult hätte. Sie konnte nicht mehr begreifen, warum sie sich so kindisch auf dieses Abenteuer eingelassen hatte, vor allem, nachdem sie mitangesehen hatte, wie eiskalt Camus abgeknallt worden war.
    Bei einem Blick in die Runde hatte sie jetzt den Eindruck, daß die Bar nicht so war, wie sie ihr vorgekommen war, daß die Kartenspieler vielleicht nur dahockten, um sie zu beobachten, und das Pärchen neben der Tür sie nur an der Flucht hindern sollte.
    Der Mann, der sie abholte, hatte keinen Schnurrbart, sondern eine Rotzbremse aus kommaähnlichen schwarzen Borsten, und wenn er lächelte, bleckte er Goldzähne, die aussahen, als seien sie ganz neu.
    Als sie ihre Handtasche aufmachte, um nach Kleingeld zu suchen, sagte er:
    »Lassen Sie nur …«
    Und zum Wirt:
    »Schreib’s auf meine Latte, Bob.«
    Was hätte sie machen sollen? Wenn sie sich weigerte, mitzugehen, würde ihr dann hier im Bistro auch nur ein Mensch beispringen? Wenn sie erst mal auf der Straße war, konnte sie freilich schreien. An der Ecke zur Rue de Lappe standen immer ein paar Polizisten. Aber bis dorthin waren es mindestens hundert Meter Trottoir, und die meisten Leute hier gehörten zum anderen Lager.
    Hatte etwa Camus heute morgen noch schreien können?
    Alle diese Gedanken schossen ihr blitzartig durch den Kopf, während der Mann mit den Goldzähnen sie immer noch auf eine Art angrinste, die ihr unheimlich war.
    Sie war aufgestanden und konnte noch eine Galgenfrist herausschinden, indem sie vor einem blinden Spiegel so tat, als rücke sie ihr Hütchen zurecht. Beim Hinausgehen drehte sich ebensowenig jemand nach ihr um wie beim Hereinkommen, und sie empfand den Straßenlärm als Befreiung, hatte flüchtig das Gefühl, einer großen Gefahr entronnen zu sein.
    »Wo ist es?« fragte sie.
    Sie hatte erwartet, es würde ein Wagen am Bordstein stehen, und hatte davor die größte Angst gehabt. Aber sie gingen zu Fuß. Ihr Begleiter murmelte:
    »Ganz in der Nähe …«
    Sie merkte nicht, daß er bewußt auf der Straßenseite ging. Und daß nach einer Weile eine unbeleuchtete Sackgasse gähnte. Es ging so schlagartig wie bei Camus auf dem Pont Sully. Ihr wurde gar nicht so recht bewußt, wie der Mann mit den Goldzähnen sie dort hineinstieß. Plötzlich befand sie sich in einem rabenschwarzen Durchgang, und etwas Flauschiges bedeckte ihr das Gesicht, während sie zugleich von kräftigen Armen nach hinten gerissen wurde.
    Sie konnte einfach nicht schreien, sich nicht wehren. Außer dem Mann, der sie hergebracht hatte, waren da offenbar noch zwei. Die sagten kein Wort, aber sie hörte sie schnaufen.
    Einen Knebel im Mund, irgendeinen stinkenden Sack über dem Kopf, die Handgelenke hinter dem Rücken verschnürt, wurde sie über das holprige Pflaster des Gäßchens vorwärtsgestoßen. Sie konnte nichts sehen, dachte an Duclos und wünschte sich zum ersten Mal, er möge ihr ganzes Vorhaben durchschaut haben.
    Eine Tür wurde aufgestoßen, sie wurde hochgehoben, an Armen und Beinen gepackt und eine Treppe hinaufgetragen, die bestimmt sehr schmal war, denn sie schurrte dauernd an der rauhen Wand.
    Schließlich fand sie sich auf einem Bett mit quietschendem Rost wieder, einem eisernen Gitterbett, wie ihr schien, schmal und hart.
    Die Männer, die zu dritt sein mußten, hatten kein Wort gewechselt. Sie hörte sie hin und her gehen. Dann schienen sich die Schritte zu entfernen, erst auf dem Flur, dann auf der Treppe, und schließlich wurde es still.
    Außer ihr schien niemand im Raum zu sein.

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