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Das große Los

Das große Los

Titel: Das große Los Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Sie begann erst vorsichtig, dann immer hektischer, sich auf dem Bett zu drehen und zu wenden in der Hoffnung, die Hände freizubekommen. Jedesmal, wenn der Bettrost quietschte, hielt sie inne und fing dann vorsichtig von vorne an. Um ihre Handgelenke war kein Strick geschlungen, sondern eine Art Schal, vielleicht aus Kunstseide, und mit etwas Geduld würde sie sich gewiß befreien können.
    Ihr wurde warm. Das Zimmer roch muffig. Trotz des Sacks, den sie immer noch über dem Kopf hatte, wußte sie, daß Licht brannte, nicht sehr hell, vielleicht bloß eine Glühbirne an einer Schnur von der Decke.
    Wenn die Männer nicht zu früh zurückkamen – waren sie vielleicht den unheimlichen Gaston holen gegangen? – würde sie in etwa zehn Minuten ihre Fesseln los sein.
    Sie keuchte, begriff, daß sie ihre Kräfte einteilen mußte, hörte auf, blindlings herumzuzappeln und machte nur noch die nötigsten Bewegungen. Endlich rutschte die Seide ab, vielleicht auch durch ihre schweißfeuchte Haut, sie bekam eine Hand frei, dann die zweite und riß sich dann mit einem erleichterten Seufzer den Sack vom Kopf.
    Jetzt mußte sie nur noch den Knebel loswerden. Da sah sie sich um und erblickte weniger als drei Meter entfernt in einem alten Polstersessel einen Mann.
    Er lachte sie schweigend aus, und Lili fühlte sich in diesem Moment weniger verschreckt als gedemütigt. So hatte er also die ganze Zeit dagesessen, während sie sich abstrampelte, um sich zu befreien, und ihr höhnisch dabei zugesehen!
    Er hatte eine Vollglatze, das fiel ihr als erstes auf. Er war schon mindestens sechzig. Er saß fast so steif in seinem Sessel wie Justin Duclos im Rollstuhl und hatte einen Revolver auf den Knien und lässig die Hand darauf.
    Es war unheimlich, wie er so dasaß und lautlos lachte. Das Zimmer war vergammelt. Außer dem Bett und dem Sessel, beide gleich schäbig, standen nur noch ein Krug und eine Waschschüssel aus Steingut auf einem Tischchen mit Bambusbeinen.
    Sie machte die Augen zu und hoffte, sie habe sich getäuscht und alles sei nur ein Alptraum. Als sie sie wieder aufschlug, hockte er immer noch da, mit demselben unhörbaren Lachen, das aus seinem Bauch zu kommen schien. Da packt sie die Wut, und sie riß den Knebel heraus, spuckte ihm ins Gesicht und schrie dazu wie ein zorniges kleines Mädchen:
    »Drecksack!«
    Es schüttelte ihn noch heftiger, er lachte sich fast einen ab.
3
    Das Furchterregendste war der Widerspruch zwischen dem Mann und seinem Gelächter. Sein Gesicht war nämlich eher das harte, verschlossene, äußerlich wie leblose Gesicht eines Menschen, der seine Tage im Halbdunkel eines Hinterzimmers oder eines Büros zubringt, wo nie die Sonne hineinscheint. Er hätte ein Winkeladvokat von anno Tobak sein können, oder ein Wucherer. Er trug sogar jetzt im Hochsommer Schwarz, sein Anzug schlotterte, war an den Ellenbogen speckig und hatte am Revers Flecken von Speiseresten.
    Er hatte wohl nicht oft was zu lachen, vielleicht seit Jahren zum ersten Mal, und seine Gesichtszüge, die keine Lachfalten hatten, verzerrten sich deswegen so unnatürlich.
    Nach einigen Augenblicken erlosch das Lachen übrigens genauso schlagartig, wie es eingesetzt hatte, und als Lili auf der Bettkante sitzenblieb und sich umsah, als gebe es trotz des Revolvers einen Fluchtweg, musterte der Mann sie seinerseits und fing endlich an zu reden.
    »Du willst Gaston sprechen, hat man mir gesagt?«
    Und sie, angriffslustig, weil sie spürte, daß Finten hier nicht verfingen:
    »Das sollen wohl Sie sein?«
    »Genau genommen bin ich’s nicht. Keiner ist das. Verstehst du jetzt?«
    »Nein.«
    »Gaston ist nur ein Losungswort, mit dem man bis zu mir gelangen kann. Du hast es geschafft. Was willst du von mir?«
    Während sie noch vergeblich nach einer plausiblen Antwort suchte, zog er ein Stück Karton aus der Tasche, drehte es um und zeigte es ihr. Eine Fotografie, vor zehn Jahren aufgenommen, als Madame Duclos noch lebte und ihr Mann Chef der Sonderbrigade gewesen war. Lili war auf dem Foto wenig älter als zehn. Sie konnte sich gut an diesen Sonntag auf dem Land erinnern, an dem einer der Gäste des Hotels, wo sie die Ferien verbrachten, das Foto gemacht hatte. Da baumelten ihr noch Zöpfe auf dem Rücken.
    »Kennst du die Kleine da auf dem Foto?«
    Wozu leugnen? Sie sah jetzt kaum anders aus.
    »Seither ist allerhand passiert, was?« setzte er mit hochzufriedener Miene hinzu. »Der Herr da neben dir hat allerhand abgekriegt und würde sich heute

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