Das große Los
Briefwechsel, bis ihm im Regal zufällig die Sammelbände der Gazette des Tribunaux in die Hände gerieten, deren erste Faszikel vor anderthalb Jahrhunderten gedruckt worden waren. Bald kannte er sich in allen berühmten Strafprozessen aus. Wenn seine Frau ihn auf einen laufenden Prozeß ansprach, ließ er beiläufig fallen:
»Erinnert mich an den Fall Lamotte, 1852 in Reims.«
»Woher hast du das schon wieder?«
»Von einem Kollegen im Büro, Ledent, der ist ganz versessen auf so was.«
Ledent hatte er erfunden, einfach so. Alsbald mußte er sich einen neuen Direktor ausdenken, weil er seiner Frau zu Weihnachten unbedingt einen Persianer kaufen wollte. Monsieur Saimbron hatte ihm bereits die erfundene Gehaltserhöhung bewilligt, doch war er nicht der Mann, der seinen Angestellten auch noch eine Weihnachtsgratifikation zahlte.
»Wir kriegen wohl einen neuen Direktor.«
»Setzt sich Monsieur Saimbron zur Ruhe?«
»Er will offenbar vorher noch seinen Nachfolger einarbeiten.«
Den nannte er Monsieur Juramie, den Namen hatte er auf einem Schaufenster gelesen, und er hatte ihm gefallen. Und dank Monsieur Juramie konnte er jetzt den Pelzmantel kaufen und obendrein eine Handtasche für Nicole.
Monsieur Juramie war Waidmann, und da er Charles Perrins Leistungen zu schätzen wußte, brachte er ihm oft Wild mit, einen Hasen, einen Fasan, eine Rehkeule.
»Du stehst dich offenbar gut mit deinem Monsieur Juramie.«
»Er beobachtet mich genau, fragt mich dauernd aus. Würde mich nicht wundern, wenn er mich demnächst befördern würde.«
Die Nationalbibliothek nahm ihn nicht ganztags in Anspruch. Er hatte seit jeher noch eine zweite heimliche Leidenschaft, das Billard. Nachmittags ging er nun immer in ein Café an der Porte Maillot, unweit seiner Sparkassenfiliale, wo er so gut wie sicher sein konnte, Spielpartner zu finden.
Eines Abends kam er in braunen Schuhen heim, wie er sie sich schon immer gewünscht hatte.
»Willst du jetzt etwa mit braunen Schuhen ins Büro?«
»Monsieur Juramie trägt selber welche. Der kommt nicht so altmodisch daher wie Monsieur Saimbron.«
Dieser Monsieur Juramie hatte Charles Perrin richtig ins Herz geschlossen und erklärte eines schönen Tages:
»Ein Mann wie Sie vergeudet sich in der Buchhaltung.«
»Das hat er wirklich gesagt?«
»Aber freilich. Er hat das nicht bloß gesagt, sondern mich zum Leiter der Auslandsabteilung ernannt, ab nächste Woche.«
Von der Gehaltserhöhung konnten sie sich einen Urlaub am Meer leisten. Von einem neuerlichen Weihnachtsgeld wurden Bauernmöbel fürs Eßzimmer angeschafft.
Perrin war Monsieur Juramies rechte Hand geworden. Drei Jahre später war er bereits Prokurist. Madame Perrin konnte es einfach nicht fassen und behandelte ihren Mann unwillkürlich mit mehr Hochachtung. Manchmal bekam sie leise Beklemmungen:
»Und dieses ganze Geld ist wirklich selbst verdient?«
»Was soll das heißen?«
»Weiß nicht. In der Zeitung steht manchmal was über Buchhalter, die Dummheiten gemacht haben. Und überhaupt, es ist alles so unverhofft.«
»Ehrenwort, ich hab’ niemand was weggenommen.«
Für seinen Schwager und seine Schwägerin, in deren Augen er vordem eine Null gewesen war, wurde er zur Respektsperson.
»Wenn du erst mal Chef bist, kannst du vielleicht meinen Sohn bei dir im Büro unterbringen!«
Umgezogen waren sie nicht. Er hing an seinem Viertel, seiner Straße, seiner Wohnung ebenso wie an seinen lieben Gewohnheiten. Als Nicole mit sechzehneinhalb von der Schule abging und verkündete, sie werde sich eine Stelle als Stenotypistin suchen, wollte er sie davon abbringen. Sie habe das nicht nötig, sie solle Abitur machen, studieren. Doch davon wollten weder Frau noch Tochter etwas wissen.
»Na gut, du hast eine Bombenstellung. Aber Sicherheit ist das keine, und man kann nie wissen.«
Nicole fing bei einer Versicherung in der Rue Pelletier an, und morgens nahmen sie gemeinsam die Metro, stiegen allerdings nicht an derselben Station aus.
Die Freundschaft von Monsieur Juramie kannte inzwischen keine Grenzen mehr. Es kam sogar vor, daß er Nicole ein neues Kleid schickte mit der Erklärung, er habe es für seine Tochter gekauft, aber der habe die Farbe nicht gefallen.
»Ihrer Tochter steht es bestimmt, Sie ist doch blond.«
Wenn er keinen Partner fürs Billard fand, ging Perrin ins Kino, und er mußte sich manchmal auf die Zunge beißen, wenn die Rede auf einen Film kam, um nicht rauszuplatzen: »Hab ich doch schon gesehen.«
Bei
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