Das große Los
stand und sie durch die Türscheibe ansah. Er blickte womöglich nur so zu ihr her, ohne sich was dabei zu denken, aber trotzdem warf sie seinetwegen, nur weil sie sich vor ihm genierte, die Münze ein und wählte die Nummer der ›Bar des Copains‹.
Am anderen Ende meldete sich fast sofort eine Stimme:
»Hallo …«
Sie mußte sich einen Ruck geben, bevor sie sagen konnte:
»Monsieur Gaston, bitte.«
Schweigen am anderen Ende. Noch war es Zeit, aufzulegen, aber sie tat es nicht. Der Mann schien zu überlegen.
»Welchen Gaston?« fragte er schließlich.
Und sie, ganz frech:
»Eben Gaston.«
Wieder Schweigen. Sie nahm an, daß die ›Bar des Copains‹ um diese Zeit bestimmt so gut wie leer war. Die Rue de la Roquette kannte sie. Nummer 33 b lag ganz in der Nähe der Rue de Lappe, wo das Leben bei Sonnenuntergang anfing, wenn die rosa oder lila Lampen der Nachtbars angingen und Musettewalzer bis auf die Straße drangen.
»Wer spricht denn da?«
Sie suchte nach einem Namen, irgendeinem, und der Zufall wollte es, daß ihr der ihrer Mutter über die Lippen kam.
»Lucile.«
»Ich seh’ nach.«
Der Apparat blieb so lange stumm, daß sie sich schon fragte, ob der Mann aufgelegt hatte. Sie war drauf und dran, einzuhängen und zu gehen, als sie am anderen Ende was hörte, zwei Flüsterstimmen, dann eine der beiden, nicht die gleiche wie vorhin, mit der Frage:
»Wer ist denn dran?«
»Ich rufe für Lucile an, die mir etwas für Monsieur Gaston aufgetragen hat.«
»Ich höre.«
»Das geht nicht am Telefon. Sie hat mir eingeschärft, es Ihnen unter vier Augen zu sagen.«
»Wo sind Sie jetzt?«
»In der Stadt.«
»Wer sind Sie überhaupt?«
»Jemand, den Lucile mag.«
Am Zweithörer hörte wohl jemand mit, denn sie vernahm erneut ein undeutliches Gemurmel, als berieten sich die zwei.
»Sag mal, Kleines, du machst keinen Scheiß?«
»Nein.«
Sie war schon zu weit gegangen, um zurückzustecken. Sie wollte auch nicht. Sie mußte unbedingt diesen Mann treffen, von dem sie nichts wußte. Und da er wieder schwieg, ging sie impulsiv noch einen Schritt weiter, riskanter noch als der vorige, und wieder hatte sie ein ungutes Gefühl dabei. Aus Angst, er könnte auflegen, murmelte sie ganz leise, wie man einen Köder auswirft:
»Es ist wegen Camus.«
Ihr Gesprächspartner schnaufte jetzt schwer, was ihr bewies, daß sie ins Schwarze getroffen hatte.
»Kann jemand mithören?«
»Nein. Ich bin in einer Telefonzelle.«
»Weiß jemand von deinem Anruf?«
»Niemand außer Lucile.«
»Bist du sicher, daß dich keiner beschattet?«
»Ganz sicher.«
»Hör zu. Ich hab jetzt keine Zeit. Geht’s auch heute abend?«
»Erst nach zehn.«
Wieder wurde am anderen Ende geflüstert.
»Warst du schon mal hier?«
Sie log.
»Klar.«
»Dann brauchst du bloß heute abend um elf herkommen und dich an den Tisch unter die Wanduhr setzen.«
»Ich komme.«
Als sie aus der Zelle trat, war sie so durcheinander, daß sie fast einen Schnaps bestellt hätte, traute sich aber nicht, denn der Wirt hätte sich gewundert.
»Geht’s dem Kommissar gut?« fragte er.
»Sehr gut. Danke. Ich muß schnell wieder zurück.«
Es wurde ein seltsamer Nachmittag. Sie wußte noch nicht, was sie am Abend tun würde, oder machte sich wenigstens vor, sie sei noch unentschlossen, dabei wußte sie genau, daß sie am Ende doch hingehen würde. Zugleich hatte sie Angst. Sie schielte verstohlen zu Justin Duclos, der sie seinerseits schärfer als sonst zu beobachten schien.
Nach drei Uhr kam ein Anruf für ihn, und schon nach den ersten Worten war ihr klar, daß sein Freund Émile Berna dran war, der Chef der Sonderbrigade. Das hatte sie sich schon gedacht. Sobald ein Fall schwierig wurde, konnte man sicher sein, Berna am Telefon zu hören, oder Duclos’ früheren Untergebenen hereinschneien und mit harmloser Miene Platz nehmen zu sehen, um sich Rat zu holen.
Allerdings verliefen die Anrufe ähnlich wie die Gespräche, das heißt, beide schwiegen mehr, als daß sie was sagten. Man hätte meinen können, sie trieben ein Spiel, wer den anderen zuerst zum Reden brachte.
»Ja, ich hab’s gelesen. Wenn ein Bild in der Zeitung gewesen wäre, hätte ich ihn vermutlich erkannt.«
Lange Pause. Lili saß am anderen Fenster und sortierte Wäsche.
»Gute Arbeit, mein Lieber«, sagte Duclos schließlich. »Wie heißt er? Camus? Évariste Camus?«
Sie hob den Kopf und fragte sich, ob er den Besuch vom Vormittag erwähnen würde, doch zu ihrer Verwunderung
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