Das grosse Maerchenbuch - 300 Maerchen zum Traeumen
„mit dir erleb ich nur Unglück, geh mir aus den Augen, ich will dich nicht mehr ansehen.“ „Ja, Vater, recht gerne, wartet nur bis Tag ist, da will ich ausgehen und das Gruseln lernen, so versteh ich doch eine Kunst, die mich ernähren kann.“ „Lerne, was du willst", sprach der Vater, „mir ist alles einerlei. Da hast du funfzig Taler, damit geh in die weite Welt und sage keinem Menschen, wo du her bist und wer dein Vater ist, denn ich muss mich deiner schämen.“ „Ja, Vater, wie Ihr es haben wollt, wenn Ihr nicht mehr verlangt, das kann ich leicht in Acht behalten.“
Als nun der Tag anbrach, steckte der Junge seine funfzig Taler in die Tasche, ging hinaus auf die große Landstraße und sprach immer vor sich hin „wenn mir es nur gruselte! Wenn mir es nur gruselte!“ Da kam ein Mann heran, der hörte das Gespräch, das der Junge mit sich selber führte, und als sie ein Stück weiter waren, dass man den Galgen sehen konnte, sagte der Mann zu ihm „Siehst du, dort ist der Baum, wo siebene mit des Seilers Tochter Hochzeit gehalten haben und jetzt das Fliegen lernen: Setz dich darunter und warte bis die Nacht kommt, so wirst du schon das Gruseln lernen.“ „Wenn weiter nichts dazu gehört", antwortete der Junge, „das ist leicht getan; lerne ich aber so geschwind das Gruseln, so sollst du meine funfzig Taler haben: Komm nur Morgen früh wieder zu mir.“
Da ging der Junge zu dem Galgen, setzte sich darunter und wartete, bis der Abend kam. Und weil ihn fror, machte er sich ein Feuer an: Aber um Mitternacht ging der Wind so kalt, dass er trotz des Feuers nicht warm werden wollte. Und als der Wind die Gehenkten gegen einander stieß, dass sie sich hin und her bewegten, so dachte er „du frierst unten bei dem Feuer, was mögen die da oben erst frieren und zappeln.“ Und weil er mitleidig war, legte er die Leiter an, stieg hinauf, knüpfte einen nach dem andern los, und holte sie alle siebene herab. Darauf schürte er das Feuer, blies es an und setzte sie rings herum, dass sie sich wärmen sollten. Aber sie saßen da und regten sich nicht, und das Feuer ergriff ihre Kleider. Da sprach er „nehmt euch in Acht, sonst häng ich euch wieder hinauf.“ Die Toten aber hörten nicht, schwiegen und ließen ihre Lumpen fort brennen. Da ward er bös und sprach „wenn ihr nicht Acht geben wollt, so kann ich euch nicht helfen, ich will nicht mit euch verbrennen" und hing sie nach der Reihe wieder hinauf. Nun setzte er sich zu seinem Feuer und schlief ein, und am andern Morgen, da kam der Mann zu ihm, wollte die funfzig Taler haben und sprach „nun, weißt du, was gruseln ist?“ „Nein", antwortete er, „woher sollte ich es wissen? Die da droben haben das Maul nicht aufgetan und waren so dumm, dass sie die paar alten Lappen, die sie am Leibe haben, brennen ließen.“ Da sah der Mann, dass er die funfzig Taler heute nicht davon tragen würde, ging fort und sprach „so einer ist mir noch nicht vorgekommen.“
Der Junge ging auch seines Weges und fing wieder an, vor sich hin zu reden „ach, wenn mir es nur gruselte! Ach, wenn mir es nur gruselte!“ Das hörte ein Fuhrmann, der hinter ihm her schritt und fragte „Wer bist du?“ „Ich weiß nicht“, antwortete der Junge. Der Fuhrmann fragte weiter „Wo bist du her?“ „Ich weiß nicht.“ „Wer ist dein Vater?“ „Das darf ich nicht sagen.“ „Was brummst du beständig in den Bart hinein?“ „Ei", antwortete der Junge, „ich wollte, dass mir es gruselte, aber niemand kann mir es lehren.“ „Lass dein dummes Geschwätz", sprach der Fuhrmann, „komm, geh mit mir, ich will sehen, dass ich dich unterbringe.“ Der Junge ging mit dem Fuhrmann, und abends gelangten sie zu einem Wirtshaus, wo sie übernachten wollten. Da sprach er beim Eintritt in die Stube wieder ganz laut „wenn mir es nur gruselte! Wenn mirs nur gruselte!“ Der Wirt, der das hörte, lachte und sprach „wenn dich danach lüstet, dazu sollte hier wohl Gelegenheit sein.“ „Ach schweig stille", sprach die Wirtsfrau, „so mancher Vorwitzige hat schon sein Leben eingebüßt, es wäre Jammer und Schade um die schönen Augen, wenn die das Tageslicht nicht wieder sehen sollten.“ Der Junge aber sagte „wenn es noch so schwer wäre, ich will es einmal lernen, deshalb bin ich ja ausgezogen.“ Er ließ dem Wirt auch keine Ruhe, bis dieser erzählte, nicht weit davon stände ein verwünschtes Schloss, wo einer wohl lernen könnte, was gruseln wäre, wenn er nur drei Nächte
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