Das grosse Maerchenbuch - 300 Maerchen zum Traeumen
vom Bart verwachsenen Gesichte. Der ermahnt ihn lange Zeit umzukehren; allein der Knabe lässt sich dazu nicht bewegen. Er schneidet dem alten Mann Bart und Haar, und darauf führt ihn der Alte an einen Berg; vor dem Berge binden sie das Pferd des Jünglings an und der Greis sagt: „So zieh denn hinauf, o Jüngling! denn auf dem Berge findest du, was du suchest: springendes Wasser, sprechenden Vogel und singenden Baum. Ich bin der Mann, der den sprechenden Vogel füttern muss. Aber du darfst dich nicht umschauen, sonst steht sogleich dein Leichenstein da, wie dort am Berge schon Tausende von Leichensteinen stehen. An jedem Leichensteine stehen die letzten Gedanken des Menschen, und so würden auch deine letzten Gedanken rasch an dem Leichensteine stehen, wenn du dich umschautest.“ Der Knabe beginnt nun den Berg hinanzureiten. Als er aber eine Strecke weit hinauf ist, scheinen ihm Tausende von Bären zu brüllen und Millionen von Schlangen zu wispern. Er blieb jedoch noch standhaft; als es ihm aber plötzlich war, wie wenn sein Bruder hinter ihm seinen Namen rief, drehte er sich um. Sogleich war er sein eigener Leichenstein; daran standen seine letzten Gedanken voll Liebe und zärtlicher Sorge um seinen Bruder.
Als dies geschehen war, sah der zweite Bruder, der noch daheim bei seiner Schwester war, an dem Tuche, das auf einmal ganz blutig geworden war, dass seinem Bruder ein Unglück widerfahren sei. Da kam auch die Zauberin wieder, und ermahnte ihn, dass er seinem Bruder zu Hülfe eilen sollte, der ausgezogen sei: springendes Wasser, sprechenden Vogel und singenden Baum zu holen. Sie glaubte aber, dass er auch noch umkommen würde. So brach er nun auch auf, nahm das Tuch von der Stirn, hing es ans Schloss und sprach: „Wenn das Tuch blutig wird, so ist mir Unheil widerfahren.“ Und damit zog er seinem Bruder nach. Und als der König am nächsten Tage wieder auf die Jagd zog, sah er nur noch das Mädchen ums Schloss reiten. Der zweite Bruder aber kam zu dem alten Mann, der wieder unter dem Baume saß, und der ermahnte ihn, zu seiner Schwester zurückzukehren. Er aber ließ sich nicht zurückhalten, und der alte Mann gab ihm Baumwolle, die musste er in die Ohren stopfen, damit er so wenig als möglich hören konnte, indem er auf den Berg stieg. Er führte ihn nun wieder an den Berg, worauf die drei Dinge sich befanden, und an seinem Fuße banden sie wieder sein Pferd an. Der Knabe begann nun den Berg emporzusteigen und gelangte glücklich bis an seines Bruders Leichenstein. Da weinte er bitterlich, und in demselben Augenblicke zogen ihn unzählige Schlangen am Rocke; dennoch ging er weiter. Da war es ihm plötzlich, als riefe hinter ihm seine Schwester. Da drehte er sich um und war in einen Leichenstein verwandelt, und auf dem standen seine letzten Gedanken an seine Schwester verzeichnet.
Am Schlosse wurde nun auch das zweite Tuch blutig; da kam die Zauberin wieder und forderte auch das Mädchen auf, ihren Brüdern zu Hülfe zu eilen, welche ausgezogen waren nach springendem Wasser, sprechendem Vogel und singendem Baum; sie hoffte aber, dass das Mädchen nun auch noch umkommen würde. Da ritt das Mädchen fort, fand den Greis unter dem Baume und er sprach: „Ich zweifle sehr, dass es dir gelingen wird, deine Brüder zu retten, und das springende Wasser, den sprechenden Vogel und den singenden Baum zu erlangen, denn es stehen dort am Berge schon die Leichensteine unzähliger Mutiger Ritter, die nach den drei Dingen auszogen, und es doch nicht über sich gewinnen konnten, immer unverzagt vorwärts zu dringen. Willst du dich aber nicht zurückhalten lassen, so nimm hier von meinen Haaren und verstopfe dir die Ohren damit, denn die Baumwolle, welche ich deinem zweiten Bruder gegeben habe, scheint sein Ohr nicht hinlänglich geschützt zu haben vor den falschen Stimmen am Berge.“
Der Greis begleitete das Mädchen wieder bis an den Fuß des Berges, und die Jungfrau begann den Berg hinanzuklimmen.
Mit betrübtem Herzen las sie, was an den Leichensteinen ihrer Brüder stand, aber schnell fasste sie wieder Mut, ging weiter und wie viel tausend Schlangen auch ihr Kleid anfassten, so gelangte sie doch zu der Stelle, wo das springende Wasser gar lustig sprang, der singende Baum seine Lieder sang und der sprechende Vogel in einem Käfig hing. Als der sie sah, wurde er so wüthend, als wolle er sie töten. Sie aber legte die Hand auf den Kopf des sprechenden Vogels, da wurde der ganz zahm und freundlich und sprach:
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