Das Große Spiel
an. Nun warfen sie Steine und brennende Fackeln gegen die Tore. Einige zielten mit Steinschleudern auf die Wachen.
Zunehmend betrunken begannen sie, Spottverse zu singen und vor den Toren von Versailles zu tanzen.
Im Schlafzimmer des Königs wurde die Leiche unter Anwesenheit von Chirurgen und Geistlichen geöffnet. Sorgfältig wurde das Herz des Königs herausgetrennt und in ein Gefäß gelegt. Dann wurden die Leber und die Nieren entfernt. Auch sie bekamen ihre eigenen Urnen. Die Gefäße wurden luftdicht verschlossen. Manchmal explodierten solche Gefäße aufgrund der Gase, die sich bildeten. Man ließ größte Vorsicht walten, um ein solch unwürdiges Schauspiel zu vermeiden.
Seine Königliche Hoheit, Monsieur le Regent, Philipp II., Duc d'Orleans, beliebte zu feiern. Er war der Ansicht, den Anlass noch nicht gebührend begangen zu haben. Er lud ein, und Paris kam. John und Catherine fanden immer weniger Gefallen an solchen Feierlichkeiten, die bis in die frühen Morgenstunden dauerten. Auch an jenem Tag hatte der Duc d'Orleans mit viel Heiterkeit den Abend begonnen und lag nun, wo es draußen schon hell wurde, schnarchend auf einem Sofa.
John saß mit Catherine neben dem großen Kaminfeuer und unterhielt sich mit Saint Simon, den die Ereignisse der vergangenen Tage und Wochen sehr bewegt hatten. Er war sogar ein wenig betrübt. Aber nicht der Tod des Sonnenkönigs machte ihm zu schaffen, sondern die Frage, ob er nun in seinen Tagebüchern noch eine besondere Würdigung einfügen oder auf spezielle Themen gerichtete Rückblicke schreiben sollte. Wie viele Schriftsteller war er auf einem hohen intellektuellen Niveau degeneriert und empfand mehr Emotionen beim Schreiben seiner Tagebücher als beim Erleben von realen Tragödien in seiner unmittelbaren Umgebung. Nach einigen Gläsern Wein, und die hatte er bereits im Blut, neigte er zu Pathos und Larmoyara und konnte mit strenger Stimme moralisieren und verurteilen, obwohl es ihn herzlich wenig gekümmert hätte, wenn er auf dem Nachhauseweg Zeuge geworden wäre, wie eine alte Frau im Straßenkot ausgeglitten wäre und sich das Bein gebrochen hätte, oder wenn er mit angesehen hätte, wie eine verzweifelte junge Mutter ihr Neugeborenes in die Seine geworfen hätte.
»Ihr seht eine Art von wilden Tieren«, zitierte Saint Simon gestenreich den verstorbenen Historiker Jean de la Bruyere, »Männchen und Weibchen, auf dem Feld zerstreut. Sie sind schwarz und fahl, sonnenverbrannt und zur Erde gebeugt, die sie mit nicht erlahmender Hartnäckigkeit umgraben und durchwühlen. Sie besitzen so etwas wie eine artikulierte Stimme, und wenn sie sich aufrichten, zeigen sie ein menschliches Gesicht. Und siehe, es sind Menschen.«
Einige Gäste waren stehen geblieben und lauschten Saint Simon. Einige ließen ihren Tränen freien Lauf. Doch es war nur der Alkohol und der mangelnde Schlaf, der sie melancholisch und rührselig werden ließ. Saint Simon hielt inne und schaute mit inbrünstig gespielter Betroffenheit in die Runde.
»Wo bleibt da die Gerechtigkeit?«, fragte er.
»Es gibt keine Gerechtigkeit, Duc de Saint Simon«, entgegnete Catherine, »ich wurde als Frau geboren, Sie wurden als Mann geboren, wo bleibt da die Gerechtigkeit? Der eine wird blind geboren, der andere stirbt im Kindesalter. Einer verliert im Krieg ein Bein, ein anderer der Verstand. Es gibt keine Gerechtigkeit, und jene Fantasten, die von Gerechtigkeit sprechen, meinen ausschließlich die finanzielle Gerechtigkeit. Es ist nichts anderes als versteckter Neid, Monsieur le Duc.«
»O, Madame, meinen Sie etwa, man solle die Gerechtigkeit nicht mal anstreben?«
»Nicht einmal Gott ist dazu fähig«, meldete sich der Duc d'Orleans mit rauer Stimme zu Wort, »sonst hätte er meinen Onkel, den König, wohl kaum siebenundsiebzig Jahre lang leben lassen.«
John Law ärgerte sich insgeheim über den erbärmlichen Zustand des Regenten, ließ sich aber nichts anmerken: »Sie können keine Gerechtigkeit erwirken, aber Sie können gerechte Bedingungen für die Menschen schaffen. Das können Sie. Und das sollten Sie anstreben. Sie können den Menschen Arbeit ermöglichen, Einkommen, Besitz, eine Aussicht auf ein besseres Leben. Aber dafür braucht Frankreich eine Nationalbank. Eine Nationalbank, die die Geldmenge erhöht, kann mehr für die Menschen tun als ein Montesquieu mit seinen Schriften.«
Saint Simon blickte gedankenversunken dem Duc d'Orleans nach, der auf ein großbusiges Mädchen mit Wespentaille
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