Das Große Spiel
könnte mehr schaffen als ein Gott auf Erden.«
»Aber er hat keine Disziplin, Monsieur«, sagte John junior und blickte für seine elf Jahre ziemlich altklug über den Tellerrand, »ohne Disziplin ist jedes Talent wertlos.«
»Und er steht wie eine Weide im Wind«, gluckste Kate, »aber nur die Eiche hat Bestand.« John und seine Schwester Kate begannen laut zu lachen.
»Ich gebe dem Regenten noch vier Wochen. Wenn er bis dann seinen Rausch nicht ausgeschlafen hat, verlassen wir Paris«, sagte John Law.
Als John Law einige Wochen später in Begleitung von Saint Simon in einer Kutsche zum Grane Palais fuhr, lieferten sich aufgebrachte Menschen und Polizisten vor dem Palast des Regenten heftige Gefechte. Beim Anblick der Kutsche unternahmen berittene Gardisten einen Ausfall, bahnten sich einen Weg durch die Menge und eskortierten die herannahende Kutsche bis in den Innenhof des Palais.
John Law und Saint Simon stiegen aus und eilten ins Gebäude, während über ihren Köpfen Steine und faules Obst hinwegflogen und an der Mauer des Palais abprallten.
»Monsieur le Duc legt eine verblüffende Geschwindigkeit an den Tag. Es ist unglaublich, wie schnell er dieses neue Verwaltungs- und Regierungssystem entwickelt hat. So oft ist er doch gar nicht nüchtern.«
»Und Sie sind immer noch Teil dieses Beratergremiums?«, fragte John Law skeptisch.
»Ganz recht, Monsieur«, entgegnete Saint Simon mit gespielter Bescheidenheit - er platzte beinahe vor Stolz. »Der Regent verfügt nun über ein Kollegialsystem, an dessen Spitze er den Conseil de Regence als beratendes Organ installiert hat. Diesem beratenden Organ sind seit neuestem sechs Räte unterstellt, die Departements für Äußeres, Kriegsführung, Finanzen, Marine, Inneres und religiöse Fragen.«
»Und dieser Noailles ersetzt tatsächlich Desmartes?«
Eilig stiegen sie die weit schwingende Treppe zum Obergeschoss empor.
»Noailles ist immerhin ein Neffe Colberts. Er ist zwar erst siebenunddreißig, aber er verfügt über ein hohes Maß an Intelligenz ...«
»Sie kennen doch meine Ansichten, Duc de Saint Simon«, lächelte John Law, »Intelligenz ist wertlos, wenn sie nicht flankiert wird von Disziplin, Ausdauer und Moral.«
»Nicht einmal Gott verfügt über derartige Qualitäten«, amüsierte sich Saint Simon, »aber Sie mögen Recht haben. Man sagt Noailles nach, dass er sich nie entscheiden kann. Er ist ein Zauderer, ein schrecklicher Zauderer. Wäre er Chirurg, jeder Patient würde vor seinen Augen verbluten.«
»Ich kenne diese Sorte Mensch von den Spieltischen. Die Intelligentesten verlieren genauso viel wie die Dümmsten.«
Zwei Diener öffneten die Türen zum großen Regierungssaal. In der Mitte dominierte ein großer Tisch mit zahlreichen Getränken. D'Argenson und der Bankier Samuel Bernard waren bereits da. Kaum hatten John Law und Saint Simon den Raum betreten, erklang der Ruf: »Le Regent! Monsieur le Due d Orleans.«
Mit energischen Schritten betrat der Herzog den Saal, gefolgt vom kurzatmigen und untersetzten Noailles, der dem dynamischen Schritt des Regenten kaum folgen konnte.
»Wir haben heute Monsieur John Law of Lauriston, den ich den Anwesenden nicht weiter vorstellen muss, eingeladen, damit er uns sein überarbeitetes Bankenprojekt erklären kann. Im Anschluss wird er uns für Fragen zur Verfügung stehen.« Der Herzog setzte sich und forderte die Anwesenden auf, es ihm gleichzutun. Er wirkte frisch und voller Tagendrang: »Monsieur le Duc de Noailles, den aktuellen Finanzbericht.«
»Darf ich offen sprechen, Duc d'Orleans?«, fragte Noailles.
Der Herzog nickte, er hatte bereits von seinem Onkel gelernt, durch Reduktion der Sprache das Gewicht des Gesagten zu erhöhen.
»Frankreich ist bankrott, meine Herren.«
Die Anwesenden schienen nicht sonderlich überrascht. Sie hatten heute Morgen alle wunderbar gefrühstückt, und wenn sich ein bankrotter Staat so anfühlte wie heute Morgen, war das nicht das schlimmste aller Ereignisse.
»Sparen Sie sich Ihre Worte, Monsieur, wir wollen Zahlen hören«, entgegnete der Duc d'Orleans knapp.
»Die Staatsschulden belaufen sich auf zwei Milliarden Livre, oder genauer: auf 2 062 138 000. Die jährlichen Schuldzinsen betragen zurzeit neunzig Millionen, also rund fünf Prozent. Die Steuereinnahmen der nächsten vier Jahre sind bereits aufgebraucht. Es kommen kaum noch Steuern beim Staat an, weil unser Steuersystem verfault und korrupt ist. Schuld sind die Finanziers, die uns die Ämter und
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