Das Große Spiel
mit dem Kopf diskret auf den schnarchenden Herzog: »Im Augenblick scheint es aber noch fest zu schlafen.«
In der ersten Septembernacht des Jahres 1715 hatten heftige Stürme die Bäume entlaubt und sie in hölzerne Skelette verwandelt, die der nassgraue Nebel verschluckte. Die feuchten Blätter bedeckten die Fußwege, schwammen im Wasser der sprudelnden Brunnen, klebten an den monumentalen Götterstatuen oder wehten leblos über Hänge und Terrassen, über Alleen und Treppen. Es war kalt geworden.
In der Ferne hörte man eine Karosse Versailles verlassen. Dann eine weitere. Die Mätressen verschenkten ihr Geschirr, ihre Kleider und die Bettwäsche an die Angestellten und zogen sich aus dem öffentlichen Leben zurück. Auch die Marquise de Maintenon, die letzte große Liebe des Sonnenkönigs. Es gehörte zu den Spielregeln bei Hofe, dass man noch vor dem Ableben des Monarchen ging. Die lebenslange Pension war garantiert und testamentarisch festgehalten.
Überall im Schloss brannte Licht. Im Schlafgemach des Königs warteten Dutzende von Menschen. Die Schlange der Wartenden reichte bis in den Spiegelsaal.
»Warum weint ihr?«, flüsterte der König. Er lag in seinem Prunkbett und versank fast vollständig in den unzähligen Pfühlen. »Habt ihr gedacht, ich würde ewig leben?« Der König verlor erneut das Bewusstsein. Sein linker Fuß und das Knie waren vom Brand befallen, der Schenkel bereits schmerzhaft entzündet. Als er wieder erwachte, bat er schweißgebadet um Alicantewein und fragte nach Madame Maintenon. Aber sie hatte Versailles bereits in aller Stille verlassen. Dann verlor er erneut das Bewusstsein. Die Ärzte beschlossen, ihm die Arznei des Abbe d'Aignan zu verabreichen. Sie sollte gegen Blattern helfen. Der König litt zwar nicht an den Blattern, aber wer weiß, vielleicht würde sie auf irgendeine Weise den Tod überlisten. Mit Gottes Hilfe. Man erlaubte sich noch das eine oder andere kleine Experiment.
Der Cardinal de Rohan hatte bereits in der Nacht die Sterbegebete gesprochen. Jetzt murmelte er ein Vaterunser nach dem anderen, eine Fleißarbeit, die eine dampfbetriebene Maschine wahrscheinlich besser hätte erledigen können.
Louis XIV., der König von Frankreich, der die Sonne als Symbol seiner Herrschaft gewählt hatte, starb am 1. September 1715, um Viertel vor acht in der Früh, drei Tage vor seinem siebenundsiebzigsten Geburtstag. Seine Regentschaft währte zweiundsiebzig Jahre. In Versailles wurden alle Spiegel mit schwarzen Stoffen verhüllt. Im Ehrenhof erschallte der Ruf: »Le Roi est mort!« Der König war tot.
Kapitel XI
Philipp II., der Duc d'Orleans, verlangte nach nassen Tüchern, nach Eiswasser mit Fruchtsaft, nach der kalten Limonade, die der Sonnenkönig so geliebt hatte. Er lag in seinem Schlafgemach, umringt von Saint Simon, John Law, Desmartes, d'Argenson und dem Bankier Samuel Bernard. Ihm war übel. Er behauptete, am Vorabend verdorbene Ware gegessen zu haben. Aber die leeren Flaschen unter seinem Bett erzählten eine andere Geschichte.
»Ist es wahr, dass die Menschen in den Straßen von Paris vor Freude singen und tanzen?«, fragte der Herzog mit matter Stimme und presste den nassen Lappen an die Stirn.
»Das Parlament wartet auf Sie, Monsieur le Duc«, drängte Desmartes.
»Ich bin jetzt Regent«, unterbrach ihn der Herzog mit einem gequälten Lächeln, »die Krone mag nun Louis' Urenkel tragen, der Duc d'Anjou, aber bis der Knirps erwachsen ist, sofern er dies jemals wird, regiere ich Frankreich.«
»Sie wollen hoffentlich nicht etwa andeuten, dass dem jungen König etwas zustoßen könnte?«, bemerkte d'Argenson gelassen. »Oder ist Homberg etwa wieder in der Stadt?«
»Sie vergessen den Duc de Maine«, meldete sich Saint Simon zu Wort. Er sprach hektisch, mit leiser, konspirativer Stimme: »Der König soll in seinem Testament verfügt haben, dass der Duc de Maine dem Duc d'Orleans zur Seite gestellt wird.«
»Ein solches Testament würde mich zur Marionette machen!«, ereiferte sich der Herzog und tauchte seinen Kopf in einen Holzzuber kalten Wassers, trank daraus, gurgelte, spuckte Wasser auf den Fußboden: »In einer Stunde werde ich im Parlament sprechen. Man möge meine Karosse bereitstellen.«
Samuel Bernard kniete vor dem Herzog nieder und sprach eindringlich auf ihn ein: »Das Parlament kann das Testament für ungültig erklären. Drängen Sie es dazu. Das Parlament hat es schon einmal getan. Beim Tode von Louis XIII. Sie müssen den Duc de
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