Das Große Spiel
Verstand verloren zu haben.
»Das ist London«, schrie Mary Astell. Die Kutsche war abrupt zum Stehen gekommen. Der Kutscher fluchte und ließ die Peitsche schwingen. Menschen brüllten, drohten, schrien, Kinderhände klammerten sich an der Tür fest, versuchten, sie zu öffnen, bettelten um Geld, um Hilfe vor Gespenstern, die die Londoner überall und immer zu hören glaubten. Die Straßenkinder klapperten mit Töpfen und Wasserkannen, damit man sie nicht überhöre, wie Gott, die Jungfrau Maria und die ganze göttliche Brut sie überhört hatten.
»Willkommen in London, Jessamy«, schrie Mary Astell und gab dem Kutscher mit ein paar Stockschlägen gegen die Decke zu verstehen, dass er anhalten sollte.
»Wo ich hier übernachten kann, habe ich gefragt!«, schrie John. »Fragen Sie nach Bugs«, schrie Mary Astell, als sie die Kutsche verließ, »und mich finden Sie im Presseclub ...«
Auf Anraten seiner Reisebegleiterin quartierte sich John Law im Vorort St. Giles ein, der beim Großen Feuer im Jahr 1666 fast vollständig zerstört worden war und heute von Ausländern, Künstlern und Beaus bewohnt wurde. St. Giles lag auf einem pittoresken Hügel, der die Londoner Innenstadt überragte. Die meisten neuen Häuser waren aus Stein gebaut. Die Straßen dazwischen breiter als in der Londoner City, eine Lehre, die man aus dem Großen Feuer gezogen hatte. Von St. Giles aus war es für die hitzköpfigen Hasardeure, die Modegecken und notorischen Wüstlinge (die einen ganzen Nachmittag brauchten, um sich für den Abend herzurichten) ein Leichtes, die Salons zu erreichen, die bereits am späteren Nachmittag öffneten. Es gab viele Salons, und jeder wurde danach gemessen, welche Berühmtheiten ihn mit ihrer Anwesenheit beehrten. Und die Einladungen der Salons entschieden über das gesellschaftliche Überleben der aufstrebenden jungen Gentlemen.
Law begann seine Londoner Karriere in den Salons der Schauspielerinnen und Schauspieler. Für einen schönen jungen Mann war es ein Kinderspiel, in diese Kreise einzudringen, besonders wenn er über so überaus galante Umgangsformen verfügte wie John Law. John gab sich als Wissenschaftler aus, als Mathematiker, der sich mit der Theorie der Wahrscheinlichkeit befasste und ein Buch zu diesem Thema schrieb, womit er auch signalisierte, dass er es nicht nötig hatte, einer bezahlten Arbeit nachzugehen. Abends besuchte er die Schauspielhäuser der Stadt, mit Vorliebe das Drury Lane Theatre. Nicht der Stücke wegen, sondern weil dort die attraktivsten Schauspielerinnen auftraten. Es war wichtig, sich zu zeigen, gesehen zu werden und sich später in den Salons wieder zu begegnen.
Wenn nicht gerade ein bösartiger Wind die gesammelten Dämpfe, Ausdünstungen und Gerüche Londons nach St. Giles hinaufwehte, gehörten die Nachmittage ausgedehnten Spaziergängen. John Law bevorzugte St. James Park.Vauxhall Garden und natürlich den großen Blumenmarkt am Covent Garden. Dort stand eine wunderschöne Kirche. Er liebte diese Kirche oder vielmehr, was sich hinter dieser Kirche abspielte. Im Schatten der Kirchtürme tummelten sich verschleierte Damen, hochnäsig und launisch, aber allesamt verheiratet und aus den adligen Herrschaftshäusern der Umgebung. Sie sprachen leise, kokettierten und konnten es kaum erwarten, sich die Kleider vom Leibe zu reißen und sich der Liebe hinzugeben. Dabei schien das aufwändige Prozedere der Kontaktaufnahme und Terminvereinbarung, dieses schier unerträgliche Hinauszögern des ersten Zusammentreffens, die Begierde erst recht zu steigern.
Häufig ging John auch in die berühmten Kaufhäuser. Im vornehmen New Exchange konnte man alles kaufen, was je von menschlicher Hand erschaffen worden war. Keine Stadt der Welt konnte sich in dieser Hinsicht mit London messen, auch Paris nicht.
Zur Mittagsstunde betrat John jeweils eine der zahllosen Londoner Tavernen. Im »Half Moon« etwa standen die Chancen gut, eine begüterte Dame anzutreffen, die allein an einem Tisch saß. Mit dem Fächer gab sie rasch und diskret zu verstehen, ob der Sitz ihr gegenüber frei war oder nicht. Betrat der schöne John Law das »Half Moon«, begannen die Fächer von allen Seiten zu rufen, diskret und charmant einladend bis dominant oder gar vulgär fordernd. Wer im »Half Moon« zu Mittag aß, musste begütert sein, denn ein Essen in dieser Weinstube kostete mehr als die Kutschenfahrt von Edinburgh nach London.
Nicht immer wählte John Law die Gesellschaft einer Dame zum Essen. Oft aß er
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