Das Große Spiel
Bedeutung waren als auch für die Karten- und Glücksspieler. John Law las und las, und er spürte die Bedeutung der Worte und die Tragweite der Theorien, die er in sich aufsog wie edlen Wein. Die mathematischen Modelle und Formeln entfachten in ihm eine Leidenschaft, die er bisher nur im Schoß der Frauen empfunden hatte. Er bewunderte die Gelehrten, die nach neuen Formeln suchten, mit denen man die reale Welt erklären und Probleme in dieser Welt lösen konnte. Sie suchten nach Lösungen, die unwiderlegbar und nachprüfbar waren. Alle Menschen kannten Zahlen, aber nur die wenigsten verstanden es, diese Zahlen zu Formeln zu vereinen, zu Algorithmen, die eine Risikoberechnung möglich machten. Nur wenige waren imstande, Zahlen zu nutzen, um mathematische Modelle durchzurechnen, die den Fluss von Geld und Waren steuerten und über Aufstieg und Fall von Nationen entschieden.
Für John Law wurde die Reise nach London so zu einer Reise in eine neue Welt. Und dass er dabei so schrecklich durchgeschüttelt wurde, gab ihm das Gefühl, ein unerschrockener Seefahrer zu sein, der orkanartigen Stürmen trotzte und wochenlang auf dem Meer herumtrieb, um neue Horizonte zu entdecken. Ein Kolumbus der Mathematik, ein Cabral der Finanzwirtschaft.
In Birmingham war für Mr Beaton und seine kleine Familie die Reise beendet. Stattdessen bestieg eine Dame die Kutsche, die etwa fünfunddreißig Jahre sein mochte. Sie hieß Mary Asteil und schrieb für eine Londoner Zeitung, den »Greenwich Hospital News Letter«. Mary Asteil hatte die Angewohnheit, John Law in Gespräche zu verwickeln, immer wenn dieser einzuschlafen drohte. So erfuhr John immerhin, dass sich der »Greenwich Hospital News Letter« rühmte, als erste Zeitung in Europa überhaupt Briefe von Lesern zu veröffentlichen und außerdem Anzeigen, in denen Händler und Kaufleute für ihre Produkte warben.
John zeigte sich beeindruckt. Doch kaum schloss er wieder die Augen, ging es weiter.
»London ist die Stadt der Beaus. Sie kommen und gehen, und wir fragen uns, woher diese Menschen ihr Geld haben.« Die Frau sah ihn an. Mary Astell war attraktiv. Ihre quirlige und unverfrorene Art machte sie durchaus noch etwas begehrenswerter, aber sie redete wie ein Wasserfall. Und beim Sprechen vermied sie nahezu jede Lippenbewegung.
Was so vornehm klang, rührte nur daher, dass diese Londoner in mückengeplagten Sumpfgebieten lebten, dachte John. Würden sie den Mund richtig aufmachen, hätten sie den Mund voller Fliegen.
»Der Beau ist ein Ausbund an Eitelkeit, bestehend aus Ignoranz, Stolz.Torheit und Ausschweifung: ein dummer, ärgerlicher Kerl, zu drei Viertel Blender, zu einem Viertel ein Möchtegernhektor. Eine Art wandelndes Tuchgeschäft, das heute den einen und morgen den anderen Stoff zur Schau stellt und dessen Wert sich allein nach dem Preis seiner Anzüge und dem Können seines Schneiders bemisst. Ein Spross des Adels, der die Laster seiner Vorfahren geerbt und der Nachwelt aller Wahrscheinlichkeit nach nichts weiter hinterlässt als Niedertracht und Siechtum.«
Mary Astell spitzte süffisant den Mund und fixierte John Laws voluminöse schwarze Allongeperücke, die sich über dem Scheitel türmte und links und rechts bis auf die Schultern hinunterfiel. Die seidene Halsbinde war modisch geknöpft. Den französischen Mantel, einen Justaucorps aus hellbraunem Stoff mit feinsten Rosettenverzierungen, trug er offen. Die Arme ruhten auf den Oberschenkeln. So kamen die breit geknöpften Jackenaufschläge noch besser zur Geltung. Als Mary Astells Blick auf Johns Degen fiel, murmelte John unvermittelt: »Und wer ist der schönste Beau in London?«
Mary Astell strahlte übers ganze Gesicht. Der Schotte hatte angebissen. Sie war sich nicht sicher, ob der Schotte überhaupt bemerkt hatte, dass ihr Spott ihm persönlich galt.
»Edward Beau Wilson«, sagte Mary Astell. »In den Londoner Salons gilt er als die größte Attraktion. Er kam aus dem Nichts. Niemand weiß, wovon er lebt. Er verfügt über eine prächtige Equipage, wie sie nur die reichsten Edelmänner besitzen: Haus, Mobiliar, Kutschen und Reitpferde, alles vom Feinsten. Er besitzt einen Sechsspänner und unterhält mehr Diener ah mancher Verwandter unseres Königs. Jeder Bankier in der Stadt leiht ihm Geld. Sechstausend Pfund soll er sich seinen jährlichen Lebensunterhalt kosten lassen. Stellen Sie sich das einmal vor. Nicht einmal Betty Villiers, die Lieblingsmätresse Williams III., erhält für ihre Dienste so
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