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Das Große Spiel

Das Große Spiel

Titel: Das Große Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Cueni
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Nein, er würde nach London fahren.
    Es begann bereits zu dunkeln, als William Law seinem Bruder John auf dem Hof von Lauriston Castle die Kutschentür aufhielt. Mit theatralischer Geste verneigte er sich. »Mr John Law of Lauriston, wir wünschen eine angenehme Fahrt.«
    John sah sich ein letztes Mal zu seiner Mutter um. Sie hatte ihren Kopf in ein rot kariertes Tuch gehüllt. Eine kalte Brise wehte über den Platz und wirbelte den Staub auf. Er schämte sich, dass er Madam so viel Leid angetan hatte. Er sah ihr an, dass es sie schmerzte, ihren Sohn an die große Metropole zu verlieren. Er spürte auch, dass Madam trotz allem, was geschehen war, wünschte, er möge in London endlich sein Glück finden, das er hier so schändlich vertan hatte.
     
    London lag gut zehn Tagesreisen von Edinburgh entfernt. Waren die Wege nicht vom Regen aufgeweicht, kam die Kutsche gut voran, ging es über holprige Landstraßen, die die Passagiere stundenlang kräftig durchschüttelten. Eine Tortur vor allem für jemanden, der sich in der Nacht zuvor ungebührliche Mengen Alkohol zugeführt hatte. John Law saß mit einem älteren Herrn, der sich Beaton nannte, in der Kutsche. Beaton reiste in Begleitung seiner jungen Frau und seiner Tochter. Mr Beaton schien ein schweigsamer Mann zu sein, und John war froh drum.
    Er hörte noch die Worte, die seine Mutter ihm zum Abschied mit auf den Weg gegeben hatte. »John«, hatte sie gesagt, »viele Menschen haben Talent, aber die wenigsten können ihr Talent nutzen, weil sie zu schwach sind und keine Disziplin haben. John, in einigen Jahren wird es nicht mehr drauf ankommen, wie vielen Frauenzimmern du den Kopf verdreht und wie viele Kartenspiele du gewonnen hast. In einigen Jahren zählt nur noch dein Beruf. Mit deinem Beruf wirst du mehr Zeit verbringen als mit allen Frauenzimmern zusammen. Dein Vater William hat seinen Beruf geliebt. Er hat für seinen Beruf gelebt. Deshalb war er erfolgreich und angesehen und konnte seiner Familie, die er über alles liebte, Lauriston Castle hinterlassen. Gib Acht auf dich, John of Lauriston. Und wenn du Geld in die Hand nimmst, meide den Gin. Und wenn du trinkst, dann fasse kein Geld an.«
    Die Worte seiner Mutter bewegten ihn. Gin macht die Leute rührselig und weinerlich. Jetzt erst schien John klar zu werden, was er getan hatte, als er nahezu sein gesamtes Erbe in einer Nacht verspielt hatte. Er hatte es beim Kartenspiel zu einiger Fertigkeit gebracht. Doch er war übermütig geworden und auf das scheinbar freundliche Angebot seiner Mitspieler hereingefallen. Er hatte sein vorübergehendes Spielglück mit Gin gefeiert. John nahm es ohne Groll und Ärger zur Kenntnis. Er begriff, dass Talent ohne Härte und Disziplin tatsächlich wertlos war.
    John wollte über all das nachdenken. Er stellte sich schlafend, um in keine Gespräche verwickelt zu werden, doch das junge Mädchen in der Kutsche räusperte sich immerzu, ließ ihren Fächer sprechen und sprudelte bei jeder sich bietenden Gelegenheit munter drauflos. Aber John hatte kein Interesse. Auch nicht an der Mutter, die nun ebenfalls ihren Fächer sprechen ließ, dezent, aber unmissverständlich. Mutter und Tochter begannen zu wetteifern. Aber John schloss die Augen. Er war froh, Schottland zu verlassen. Er war froh, Edinburgh und seine Bordelle zu verlassen.
    Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als er sich bewusst wurde, dass er all seine Schwächen und Laster mit auf die Reise nahm, wenn er nicht die Härte und Disziplin aufbrachte, seinen neuen Einsichten Taten folgen zu lassen.
    Die Reisenden übernachteten in einfachen Herbergen. Wenn alle zu Bett gegangen waren, begann John Law zu lesen. »Logik oder Die Kunst des Denkens« von Antoine Arnauld. Das Buch beschäftigte sich mit der Theorie des Würfelspiels. Mit wissenschaftlicher Genauigkeit wurden anhand des Würfelspiels Wahrscheinlichkeitstheorien erläutert. Warum war es mit zwei Würfeln wahrscheinlicher, eine Neun zu würfeln als eine Zehn? Die Wahrscheinlichkeit, mit zwei Würfeln eine Neun zu würfeln, lag bei eins zu neun. Die Wahrscheinlichkeit, mit zwei Würfeln eine Zehn zu würfeln, lag jedoch bei eins zu zwölf. Antoine Arnauld berief sich auf Gelehrte aus dem sechzehnten Jahrhundert, auf Gerolamo Cardano, auf Galileo Galilei, auf den Mathematiker Chevalier de Mere und die Bernoullis. Er las über die Gesetze der »großen Zahl«, die sowohl für die Risikoberechnung der im Entstehen begriffenen Versicherungen und Staatslotterien von

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