Das große Wawuschel-Buch
Drachen heulen hörte, kam sie wieder zu sich. Sie sprang auf und rannte zur Wiese zurück, so schnell sie konnte. Der Drache humpelte hinterher. Obwohl nicht seine Beine, sondern nur sein Schwanz verletzt war, musste er humpeln. So krank fühlte er sich!
»Huhuhu, mein Schwanz«, heulte er noch lauter, »huhuhu!«
Schwarzer Qualm dampfte aus seinen drei Mäulern und dicke Tränen kullerten aus seinen sechs Augen.
Wischel kraulte ihn, um ihn zu trösten. Sprechen konnte sie kaum, so sehr klapperten ihr die Zähne.
»Wi-wi-wir mü-mü-müssen hi-hi-hier we-we-weg«, brachte sie schließlich heraus. »Wo-wo-mö-mö-möglich ko-ko-kommtno-no-noch so ein schre-schre-schreckliches Di-di-di-dings.«
Kaum hatte sie das gesagt, kam auch schon eins. Nein, nicht nur ein einzelnes Auto, sondern gleich drei hintereinander. Hätte Wischel sich nicht an zwei Grasbüscheln festgeklammert, wäre sie wahrscheinlich, wie der arme Wuschel, vom Fahrtwind davongeweht worden.
Das gab ihr den Rest. Wischel sprang auf und rannte quer über die Wiese, zurück zum Wald. Nur dass sie in ihrer Angst und Aufregung die Richtung verlor. Statt nach rechts rannte sie nach links, zu einer ganz anderen Stelle als der, von der sie am Morgen aufgebrochen war. Hier war eine Lichtung in die Bäume geschlagen und in der Lichtung stand ein Haus.
»Was ist denn das?«, fauchte der Drache verblüfft. Vor Staunen vergaß er zu humpeln. Denn er hatte noch nie ein Haus gesehen.
»Was ist denn das?«, fauchte er noch einmal.
Wischel dagegen sagte gar nichts. Sie kaute auf ihrem grünen Zopf und starrte das Haus an. Für sie nämlich war es nicht neu. Sie war schon einmal hier gewesen, damals, als sie bei der Sprengung in eine Aktentasche gefallen war und der Menschenmann sie mitgenommen hatte.
»Drache«, sagte sie nach einer Weile. »Ich glaube, das hier – das ist das Haus.«
»Welches Haus?«
»Das Haus von dem Menschenmädchen mit den gelben Zöpfen, das mich aus der Tasche geholt hat. Du weißtdoch – bei dem ich Lesen gelernt habe! Das Menschenmädchen ist freundlich, vor dem Menschenmädchen habe ich keine Angst, das Menschenmädchen muss uns helfen. Komm, wir kriechen ins Gebüsch und warten. Irgendwann lässt sich das Menschenmädchen schon blicken.«
Diesmal irrte Wischel sich nicht. Sie brauchten nicht einmal lange zu warten, bis das Menschenmädchen aus dem Haus kam. Das Menschenmädchen mit den gelben Zöpfen!
»Hallo!«, rief Wischel. »Hallo!«
Das Menschenmädchen blieb stehen und sah sich um.
»Hallo!«, rief Wischel noch einmal. »Hallo!« Und kroch aus dem Gebüsch heraus. »Ich bin es! Wischel! Kennst du mich nicht mehr?«
Das Menschenmädchen machte ein Gesicht, als sähe es einen Geist. Aber einen netten Geist, über dessen Erscheinen man sich freut.
»Nanu, wo kommst du denn her?«, rief es. »Wie schön, dass wir uns wieder treffen. So oft habe ich den Eingang zu eurer Wohnung gesucht und ihn nie gefunden. Willst du mich etwa besuchen?«
Wischel schüttelte den Kopf. Nein, ein richtiger Besuch sei es nicht. Bei dem weiten Weg! Und wo die Wawuschels sonst doch nie ihren Wald verließen! Nur wegen Wuschels Verschwinden …
Das Menschenmädchen fiel Wischel ins Wort.
»Wuschel? Ist Wuschel verschwunden? Auf dem Jahrmarkt in der Stadt wird ein Wawuschel ausgestellt. Ineinem Zirkus. Ich habe es in der Zeitung gelesen. Ist das etwa dein Bruder?«
»Ein Kuss?«, rief Wischel aufgeregt dazwischen. »Was für ein Kuss? Wer hat Wuschel einen Kuss gegeben?«
Das Menschenmädchen lachte.
»Verstehst du immer noch alles falsch? Überhaupt kein Kuss! Ein
Zirkus
! Ein Zirkus ist …«
Das Menschenmädchen erklärte, was ein Zirkus ist. Wischel verstand es zwar nicht ganz, aber sie begriff, dass Wuschel dort war. Vor allem, als das Menschenmädchen ihr die Zeitung geholt hatte, zweifelte sie nicht mehr daran. Denn dort las sie in dicken schwarzen Buchstaben:
Neu! Ab heute im Zirkus Löwenherz!
Einmalig! Sensationell! Nie da gewesen!
Der Wawuschel mit den grünen Haaren!
Nur im Zirkus Löwenherz!
Erwachsene 1 Mark, Kinder die Hälfte.
»Was ist eine Mark?«, fragte Wischel.
»Eine Mark ist Geld«, sagte das Menschenmädchen.
»Was ist Geld?«
Ja, was ist Geld? Es war sehr schwer, es Wischel zu erklären. Als sie es endlich begriffen hatte, stand sie da und schwieg. Es hatte ihr die Sprache verschlagen und kreideweiß war sie geworden. Wuschel für Geld zur Schau gestellt. Vor einem Haufen Menschen!
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