Das gruene Gewissen
und zeigte, dass wir die Natur verändern, sobald wir sie beobachten; am eindrucksvollsten am Beispiel der Heisenbergschen Unschärferelation. 31
Die Natur machte also tatsächlich Sprünge, wie zuvor bereits Max Planck durch seine Beschreibung diskontinuierlicher Eigenschaften des Lichts gezeigt hatte, das mal als Welle und mal als Teilchen auftrat. 32 Dabei war es nicht zuletzt der in der Medienkultur der zwanziger Jahre vollends erblühten Popularisierung der Gelehrtenwissenschaft geschuldet, dass die Aussagen der Experten in einen übergreifenden Sinnhorizont münden konnten. Denndie Krise der Zeit fand in diesen Theorien eine vom breiten Publikum dankbar aufgenommene wissenschaftliche „Bestätigung“: Der Wandel des physikalischen Weltbildes ging einher mit dem Zusammenbruch des Kaiserreiches und der Erosion der politischen Ordnung, mit der Instabilität des Parlamentarismus, dem Erlebnis von Massenarbeitslosigkeit und Inflation und mit Fragen der Bestimmung des Einzelnen in einer Lebenswelt, die nicht selten als befremdlich empfunden wurde.
Kaum jemand hat die Abscheu vor einer Mathematisierung der Wissenschaften auch angesichts der zunehmenden Anbiederung der Literatur an die naturwissenschaftlichen „Verhaltenslehren der Kälte“ im wörtlichen Sinne anschaulicher zum Ausdruck gebracht als der Dichter und Nervenarzt Alfred Döblin. In einem Beitrag für die Zeitschrift Die neue Rundschau (1923) zog er gegen das Grassieren einer unverständlichen Wissenschaftslogik wie folgt zu Felde:
„Man fragt: was ist das Leben, die Welt, und bekommt die Antwort:
.
Der wirklich schauende Anblick eines vertrockneten Blattes ist mehr wert, als eine Bibliothek babylonischer oder moderner Formeln.“ 33
Der Nachweis einer wissenschaftlichen „Satisfaktionsfähigkeit“ wurde, wie Robert Musil, Hermann Broch, Ernst Jünger, Gottfried Benn, Carl Einstein und später auch Bertolt Brecht beweisen, mit der öffentlichen Bedeutungssteigerung der Physik zu einer Notwendigkeit auch innerhalb der Literatur, sich entweder demonstrativ ablehnend zu zeigen oder in irgendeiner Weise über die Wissenschaften „mitzusprechen“. Der Rekurs auf die Physik, gegen die Döblin hier wettert, oder naturwissenschaftlich beeinflusste Strömungen der Philosophie wie der Logische Empirismus wurden zu einem Merkmal artistischer Superiorität, was nicht ohne Rückwirkung auf die taktischen Erwägungen der Autoren blieb; auch solcher Autoren, die wie Brecht über keinerlei naturwissenschaftlichen Hintergrund verfügten. 34
Wenn Robert Musil 1927 – kurz nach der Aufstellung der Quantenmechanik und inmitten der Arbeiten am Mann ohne Eigenschaften – von einer „Gegenstandslosigkeit“ der gegenwärtigen Literatur berichtet und diese damit begründet, dass sich die Literaten bei der Anpassung an das naturwissenschaftliche Weltbild „verspätet“ hätten, darf man seinen Hinweis als eine unverhüllte Aufforderung betrachten, der Entwicklung der Wissenschaften nicht länger aus dem Wege zu gehen. 35
Wer will, kann auch heute beobachten, inwieweit sich der Diskurs über den Klimawandel oder vor ein paar Jahren über die Genetik – erinnert sei an die zeitweilige Öffnung des F. A. Z. -Feuilletons in Form einer täglichen Rubrik „Natur und Wissenschaft“ seit dem 1. September 2001, auf dem Höhepunkt des Humangenom-Projekts – mit kulturellen Debatten überlagern. Sie sind, das unterstreicht dieses Anschließen an die Tradition von Tageszeitungen wie der Vossischen Zeitung oder der Literarischen Welt , die sich vor knapp einhundert Jahren der Physik und Biologie öffneten, auch Ausweis des Wunsches, nicht abseits zu stehen angesichts der großen Fragen der Zeit, selbst wenn das Verhältnis bis heute immer ein distanziertes geblieben ist. 36 Und diese waren bereits damals zunehmend wissenschaftlich-technische.
Unter dem Strich öffnete eine sich stark popularisierende Wissenschaft bereits damals den Raum für abstruse Deutungen des „Relativen“, „Unbestimmten“ oder die Verwendung des Entropie-Begriffs als Ausdruck einer allgemeinen Verfallsneigung in der Welt, wie sie sich in Spenglers Der Untergang des Abendlandes findet, das zu den auflagenstärksten geschichtsphilosophischen Werken der Weimarer Zeit zählt. 37 Und sie legitimierte die Ganzheitsdiskurse gewissermaßen von höchster Stelle: Es wimmelt in dieserZeit nur so von Bekundungen einer „Einheit der Wissenschaften“ wie einer „Einheit der Natur“, etwa bei
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