Das gruene Gewissen
Umgangs mit der Natur täglich aufs Neue stellt. Man kann das Bild einer Sanduhr bemühen, die auf dem Kopf steht: Wir zehren das, was uns die Natur in kaum vorstellbaren Zeiträumen überlassen hat, Stück um Stück auf, wenn wir Kohle verbrennen oder Rohstoffe abbauen, um sie dann in Sonnenkollektoren zu verwenden. Und doch werden Energie und viele Rohstoffe streng genommen nicht verbraucht, sondern unterliegen dank der Gesetze der Natur energetischen und stofflichen Wandlungsprozessen beziehungsweise werden durch Recycling unter Hinzufügung von Energie wieder brauchbar gemacht. Das Abbauen von Kohle wie hier in der Lausitz kann darum eigentlich nur dann als eine Geschichte des irreversiblen Eingriffs erzählt werden, wenn man orthodox und eben nicht „ganzheitlich“ auf die Natur blickt.
Dies ist auch insofern von Bedeutung, als wir große Hoffnungen mit den erneuerbaren Energiequellen verbinden und dafür bereit sind, Eingriffe in die Natur zu akzeptieren. Anders als bei Abbaugebieten wie Welzow Süd sind es keine klar definierten Räume, sondern die Landschaften selbst, die sich sprunghaft verändern. Aus Erinnerungslandschaften werden industrielle Produktionslandschaften. Deshalb lässt es aufmerken, dass die breite Öffentlichkeit beim Stichwort „Naturschutz“ mittlerweile nichtmehr vorrangig an den Erhalt von Landschaften denkt, sondern an das Ziel einer Dezimierung atmosphärischen Kohlendioxids, dem sich alle anderen Facetten des Komplexes „Natur“ unterordnen.
Im Kollidieren von Klima- und Naturschutz zeigt sich daher eine wichtige Facette der Reflexion über die Natur: die Inanspruchnahme von Teilaspekten der Natur für ganz unterschiedliche Ziele. Im Grunde sehen wir nicht die Natur als einen Komplex, mit dem wir uns zwar in seiner Gesamtheit solidarisieren, aus dem wir uns jeweils aber das aussuchen, was wir unter Natur verstehen wollen. Umso leichter fällt es uns, Ungereimtheiten unseres Naturbilds zu akzeptieren. Stattdessen setzen wir uns in ein Verhältnis zu unserer Umwelt, und dies mit jeweils anderen Fragestellungen, nennen diese dann aber „Natur“. Wir brauchen das Gespräch über die Natur als ein Spiegelbild unseres Selbst, das neben aller Rationalität eben auch mitfühlende Seiten hat. Insofern ist der Erhalt der Natur auch ein wichtiger Selbstzweck. Heute, da sich die Welt zunehmend technischer anfühlt, hat diese Bedeutung zugenommen.
In dieser Zeit, als ich mich nach Welzow Süd aufmachte, fielen die Temperaturen von einem auf den anderen Tag tief in den Minusbereich. Die Schornsteine über den Dächern Berlins dampften wie die Schmelzöfen des Ruhrgebiets zur Zeit der Stahlbarone. Die Spree war vereist, Züge und Straßenbahnen blieben aufgrund von Gleisschäden in den Depots, die Kälte fraß sich durch meine Sachen. Es war ein sonniger, klarer Tag. Aber er ließ auch erahnen, wie Großstädte ganz „natürlich“ in Unruhe geraten können. Auf einmal war sie da, die Natur, und mit ihr die bereits zu den Akten gelegten Fragen, welche Kompromisse wir bei der Energieversorgung für eine Natur zu machen bereit sind, die nicht unsere eigene ist. Was die energie- und klimapolitische Rationalität nicht bewirken konnte, das tat der Frost.
Beim Frühstück hatte ich in einem SZ-Magazin geblättert und war bei einer Anzeige der Firma Louis Vuitton hängen geblieben.Zu sehen war die berühmte amerikanische Fotografin Annie Leibovitz in ihrem New Yorker Atelier. Gestützt auf eine der typischen Taschen, die das Bild unserer Städte mittlerweile tausendfach prägen, schaute sie den russischen Balletttänzer Mikhail Baryshnikov gedankenversunken an. Neben dem Label las ich den Satz: „Louis Vuitton unterstützt The Climate Project“. Gemeint war eine Initiative, die auf den früheren US-Vizepräsidenten Al Gore zurückgeht und seit 2010 The Climate Reality Project heißt. Es bedurfte keiner Erklärung, warum dieser Hinweis zur Bewerbung einer Luxustasche verwendet wurde. Der Klimaschutz war zu einer selbsterklärenden Botschaft geworden, der über jeden Kontext erhaben war.
Welzow Süd und das benachbarte Kraftwerk Schwarze Pumpe lagen mit anderen Worten genau im Zentrum eines Themas, bei dem man nur selten raus vor die Tür geht, dorthin, wo der Strom und die Wärme produziert werden. Ich traf auf eine schwedische Reisegruppe, die auf Einladung des Betreiberkonzerns Vattenfall in der Lausitz war. Es war in der Vorweihnachtszeit, jemand erzählte noch einmal die Geschichte vom
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