Das gruene Gewissen
Jahrzehnten entschieden, sagt er und lacht verschmitzt, nun zuungunsten der Kernkraft. Es geht ihm nicht um Lebensbewältigung: „Der Rückbau kam für uns nicht überraschend.“ Und dann erzählt er, dass das Kraftwerk für zwanzig Jahre genehmigt gewesen sei, die 1986 um waren. Man gab Rheinsberg noch fünf weitere Jahre, bis 1991. Dann kam die Wende und mit ihr das vorzeitige Aus. Seitdem baue man eben zurück. Ich nicke und schaue hoch, während ein Video läuft, auf dem der Abtransport von vier Castoren zu sehen ist, so gut wie das gesamte radioaktive Material. Das war im Jahr 2001. Der Reaktor selbst, der 120 Tonnen Gewicht hat, wurde 2007 von Rheinsberg nach Greifswald transportiert. Dort lagert er, damit die Strahlungsintensität von Jahr zu Jahr abnimmt. Ganz natürlich sozusagen.
Zurück zum Parkplatz
Es ist 16 Uhr, aus dem Verwaltungsgebäude strömen Mitarbeiter wie Schulkinder zum Ferienstart aus den Klassenräumen. 130 festangestellte Mitarbeiter gibt es hier noch. Möller und ich gehen zwischen den Menschen hindurch und bleiben im Treppenhaus stehen, das auf einmal leer ist. Auch hier ist die Zeit stehen geblieben. Der Boden ist grün wie ein Billardtisch, die Wände sind braun, die Säulen gelb und blau gekachelt. Es ist das Flair der sechziger Jahre. Der Bau ist mittlerweile denkmalgeschützt.
Wir laufen die Treppen hoch und passieren die Sicherheitssperre, eine massive Drehtür aus Stahlrohren. Und dann stehen wir inmitten der originalgetreu erhaltenen Schaltwarte mit unzähligen Diagrammen, Schreibern und technischen Zeichnungen, die jeweils auf Deutsch und Russisch verfasst sind. An der Wand hängt ein Kalender, der von meinem Großvater stammen könnte. Im Stillen wünsche ich es mir, als ich ihn nach Initialen absuche.Doch ich finde keine. „Kernenergie“, steht da geschrieben. „Für eine friedliche Zukunft.“
Wie unumwunden das Bild der Kernkraft vor 1989 ein positives war, wird auch an der bräunlichen Zehn-Mark-Geldnote der DDR deutlich. Sie liegt in einer Glasvitrine. Wo in der alten Bundesrepublik Carl Friedrich Gauß abgebildet war, ist es in der DDR Clara Zetkin gewesen. Auf der Rückseite des Scheins aber ist eben jene Schaltwarte zu sehen, in der ich jetzt stehe. Am Pult sitzt eine Ingenieurin mit dunklen Haaren und Kittel. „Es gab diese Frau hier wirklich“, sagt Möller und nickt.
Dann verabschieden wir uns. Im Schnitt bin ich einer von zwei Besuchern, die jeden Tag ins ehemalige KKW Rheinsberg kommen. Andernorts sind es viel mehr, er wisse das, sagt Möller, da er sich regelmäßig mit den Verantwortlichen für Öffentlichkeitsarbeit aller deutschen Kernkraftwerke treffe. Aber warum soll man sich auch für ein Kraftwerk interessieren, das seit zwanzig Jahren zurückgebaut wird?
Als ich von der Baracke zum Tor gehe, bleibe ich stehen. Die Stille ist so groß, dass sie auffällt. Man hört von Ferne ein Flugzeug und ein Auto, das über Betonplatten fährt, sonst nur das Zwitschern der Vögel. Ich blicke auf den Boden: Hunderte, vielleicht Tausende großer roter Waldameisen bedecken den Beton wie mit einer vibrierenden Farbschicht, laufen in verschränkten Strömen zwischen meinen Schuhen und über sie hinweg. Wie in einem militärischen Sperrgebiet hat die Drohung der Technik einen Raum geschaffen, in dem sich die Natur entfalten konnte. Und wenn es eine Analogie zum Rückbau des Kraftwerks gibt, dann die, dass sich die Tiere zurückerobern, was der Mensch hier einst gestört haben mag.
Ich starte den Motor und passiere das schmiedeeiserne Tor, in dessen Mitte noch immer das Atomsymbol mit einer Friedenstaube erhalten ist. Ich blicke in den Rückspiegel, bis ich die Konturen nicht mehr erkenne. Ein Fuchs läuft die Straße parallel zu mir, wir sehen uns ein paar Mal an. Und dann bin ich mitten imWald und sehe ein anderes Symbol am Rand: Es ist das Naturschutzzeichen, eine schwarze Eule auf gelbem Grund. Die Farben der Kernkraft, welche Ironie.
Am Rand der Straße blühen Anemonen, die hell leuchten und der Natur etwas Unschuldiges geben. Wieder höre ich Musik, diesmal ist es ein Lied von Katharina Franck. Früher war sie die Sängerin der Rainbirds, und ich war ein wenig verknallt in sie. Einmal sah ich sie auf dem Berliner U-Bahnhof Alexanderplatz, brachte aber kein Wort raus. Sie hat nie an diesen einen großen Erfolg anknüpfen können, spielte in Formationen wie dem Club der toten Dichter , wo man Texte von Rilke vertonte, zumeist bei kleineren Events in der
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