Das gruene Gewissen
Bundesrepublik lag bei der Elektrostromproduktion ungefähr bei einem Drittel des Gesamtstroms, in der DDR erreichte man nur zehn Prozent – und auch die waren schwer zu halten angesichts der immensen Kraftanstrengungen mit vielen Tausenden Bauarbeitern.
Die konkreten technischen Planungen für das erste Kernkraftwerk auf ostdeutschem Boden hatten in den frühen sechziger Jahren begonnen. 1966 ging es dann ans Netz und lieferte bis zu seiner Abschaltung im Jahr 1990 Strom: das Kernkraftwerk Rheinsberg. Zwar gab es auch im Osten anfangs den ehrgeizigen Plan, mehr als zehn Kraftwerke zu bauen. Doch daraus wurde nichts. So gab es in der DDR bis zur Wende nur noch ein zweites Kraftwerk, Lubmin bei Greifswald. 69 Ein drittes und besonders leistungsstarkes in Arneburg bei Stendal, trotz umfangreicher Sicherheitsmaßnahmen in Folge der Havarie von Tschernobyl bereits zu einem Gutteil fertiggestellt, ging nicht mehr in den kommerziellen Betrieb. Es hatte das größte der DDR werden sollen, und gemessen an seiner Leistung das größte deutsch-deutsche Kernkraftwerk überhaupt.
Alle drei Standorte hatten unter „natürlichen“, sprich landschaftlichen Gesichtspunkten etwas gemeinsam, und es verbindetsie mit den Kraftwerken im Westen und überall auf der Welt: Sie lagen fern von konventionellen Rohstoffen zur Stromerzeugung, und sie wiesen eine direkte Nähe zum Wasser auf, das man zum Kühlen braucht. Das KKW Greifswald lag am Bodden, Stendal an der Elbe und Rheinsberg auf einer Landzunge zwischen dem magisch-schönen Stechlinsee und dem Nehmitzsee – inmitten einer Natur, die das Technische vor den Augen der Menschen verbirgt wie die Verkleidungen des Kraftwerks Schwarze Pumpe.
Die Natur war hier wie dort eine Bedingung des Technischen, indem sie ihm einen Raum gab, sich zu entfalten: in einem dünn besiedelten Gebiet.
Inmitten der Natur – und nahe der Technik
Grün, soweit das Auge reicht. Der Wald hinter Menz ist so dicht, dass man kaum hindurchsehen kann. Minutenlang fahre ich durch die Kiefern, die Betonplatten des Weges hinterlassen gleichmäßige Schläge in meinen Beinen.
Als ich am Morgen aus Berlin in Richtung Norden losgefahren war, hatte ich einen amerikanischen Sender im Radio erwischt, der wie das Programm der BBC auch in Deutschland zu empfangen ist: das National Public Radio mit Sitz in Washington. Am Ende von Market Place lief ein Trailer, der die Hörer darüber informierte, dass die Sendung vom Nuclear Energy Institute gesponsert sei – ein in Deutschland undenkbarer Vorgang. Minuten später hörte ich mit derselben Selbstverständlichkeit, dass ein anderer Programmpunkt von der Poetry Foundation unterstützt wurde.
Es ist mittags, und die Sonne hat bereits Kraft. Die Straße erinnert an den Weg zu einem Militärobjekt im Wald. Man hat keinerlei Gefühl für die Zeit, zumal der Betonweg von seiner Substanz her historisch wirkt. Es könnte auch der Weg in die Wolfsschanze in Rastenburg in Ostpreußen sein, wie ich ihn aus einemSpielfilm über den 20. Juli in Erinnerung habe. Ausgerechnet Tom Cruise spielt darin eine Ikone des deutschen Widerstands. Ich merke, wie ich aufs Gas trete.
Irgendwann sieht man die typischen tropfenartigen Straßenlaternen im Aluminiumdesign, wie ich sie vom Bahnhofsgelände in Rostock vor 1989 kenne. Es geht vorbei an der ersten Kamera. Hinter dem Tor begrüßt mich Jörg Möller, der das Rückbauprojekt in Rheinsberg koordiniert. „Jahrelang haben wir hier draußen ruhig gelebt“, sagt er. „Seit Fukushima hat das Interesse wieder zugenommen.“
Wir gehen in eine Baracke, die jener in Welzow Süd ähnlich ist, und setzen uns an einen Tisch. An der Wand hängt ein Gemälde aus den Aufbautagen des Kraftwerks, eines der typischen Realismus-Bilder dieser Zeit. Ich denke an meinen Großvater, und Möller beginnt zu erzählen.
Rheinsberg, das wusste ich, wird seit der Wende zurückgebaut. Die Kosten dafür trägt das Finanzministerium in Berlin. Anders als westdeutsche Kraftwerksbetreiber, die für den Tag der Abschaltung entsprechende Rückstellungen bilden müssen, hatte man in der DDR nicht vorgesorgt. Alle zahlten in einen Topf, und alle entnahmen aus einem Topf. Auf gut 560 Millionen Euro werden die Kosten geschätzt, die zum vollständigen Rückbau anfallen und vom Bund übernommen werden. Mit Lubmin sind es an die vier Milliarden. Ein gefundenes Fressen für Kernkraftgegner und Steuerschützer. Zusammen mit dem ehemaligen KKW Lubmin findet in den Wäldern nahe
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